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Aktuell

Der Chor in der Hauptrolle

Zuschauer-Wahrnehmungen • Von Irene Constantin

In den Kritiken gibt es ihn kaum. Nach spaltenlangen Auslassungen über die Regiekonzeption und das Bühnenbild findet der Rezensent einer Opernpremiere meist noch eine erkleckliche Anzahl Sätze für den Dirigenten und schließlich einige mehr oder weniger freundliche generalisierende Bemerkungen über die Solisten. Der Chor wird erwähnt, allenfalls. Seine perfekte vokale Leistung wird erwartet und hingenommen. Ausnahmen sind lediglich extraordinär schwere Chor-Opern, beispielsweise Schönbergs „Moses und Aron“ oder Messiaens „Saint Francois d’Assise“. Gern lobt man auch die Chorherren in der „Götterdämmerung“. Hier überwältigt massive Stimmkraft, vor allem aber ist der Chor optisch als Hauptdarsteller präsent.

 
 

70 bis 80 Prozent seiner Informationen nimmt der Mensch über das Auge wahr – auch wenn es ihm als Opernbesucher um die Musik geht. Nicht nur, aber auch in dieser Tatsache liegt die ausgiebige Kritiker-Würdigung aller optischen Anteile am Gesamtkunstwerk Oper begründet. Eine zurückhaltend kostümierte Volksmenge, einfallslos in den Hintergrund der Bühne gestaffelt und zu schematischen Auf- und Abgängen genötigt, vermag kaum das Interesse auf sich zu ziehen. Die Präsenz des Chores für den Zuschauer hängt außerordentlich stark von der Bühnenaktion ab, eher gelegentlich auch vom Chor als „Bild“ wie im gegenwärtigen Bayreuther „Tannhäuser“. Nicht umsonst führte Walter Felsenstein, der für jeden Chorsänger seiner Komischen Oper eine individuelle Rolle schuf, die Bezeichnung „Chorsolisten“ ein. Chorregie ist schwer, erfordert neben Phantasie vor allem Erfahrung und wird von den derzeit so beliebten Laien aus der Film- oder Schauspielbranche am Opern-Regiepult oft kaum bewältigt. Je intensiver ein Regisseur mit dem Chor arbeitet und je engagierter die Sänger sich einsetzen, desto deutlicher nimmt man den Chor als eigene künstlerische Kraft wahr. Die Originalität oder „Modernität“ des Regieansatzes ist nicht das Entscheidende. Zwei Beispiele: die 20 Jahre alte, insgesamt konservativ unspektakuläre „Lohengrin“-Inszenierung von Theo Adam an der Berliner Staatsoper und der in der vergangenen Spielzeit herausgekommene Dresdner „Wozzeck“, inszeniert von dem erst 30jährigen Sebastian Baumgarten. Theo Adam hatte im 1. Akt die Mannen von König Heinrichs Heerbann über die gesamte Bühnenbreite an die Rampe treten und dort niederknien lassen. Sie schmetterten ihren Treueschwur den Zuschauern derart markig entgegen, dass sich die ganze deutsche Geschichte mit ihrem unheilvollen Drang gen Osten während eines kurzen Choreinwurfs in die Erinnerung drängte. Ein winziges Stück Musik – ein unvergessliches Bild; die Inszenierung ist längst vom Spielplan verschwunden.

Sebastian Baumgartens „Wozzeck“ spielte in einer billigen Ladenpassage. Der Chor, das war das dort herumwuselnde Gelichter, es waren werkzeugbewaffnete Baumarkt-Verkäufer, unheimliche Handwerker, magische Schaufensterpuppen: Baumgarten hatte eine so intensive Personenführung erarbeitet, dass man Solisten und Chorsolisten nach der Bühnenpräsenz kaum zu unterscheiden vermochte.

In einem solchen Kontext ist es nebenbei bemerkt höchst erfreulich, wenn einige Chormitglieder deutlich nicht-europäische Gesichtszüge haben. Der globalisierungsgewohnte Zuschauer von Inszenierungen, die ohnehin in Zeit und Ort vom Libretto abweichen, nimmt internationale Chorsänger in gleicher selbstverständlicher Weise hin wie internationale Solisten. Im Übrigen gilt: Man kann damit auf intelligente Weise spielen, wie man es mit der Körperlichkeit der Sänger seit eh und je tut.

Die Frage, warum die asiatische Konkurrenz bei der Stellenvergabe oftmals deutschen Hochschulabsolventen vorgezogen wird, ist aus der Sicht des Publikums weniger entscheidend.

Den vor allem am künstlerischen Erlebnis interessierten Zuschauer, Kritiker und Zeitungsleser, der von den Problemen hinter der Bühne vor allem die Dauerlitanei der Geldknappheit in den Medien geboten bekommt, muss allerdings erstaunen, dass der den Chor schier verschwinden lassende Kritikerblick gelegentlich auch innerhalb des Theaters vorherrscht. Chöre samt Chorleiter fristen nicht selten ein im täglichen Getriebe kaum beachtetes, marginales Dasein.

Ob dies auch für das Staatstheater Cottbus zutrifft, sei dahingestellt. Jedenfalls erprobte man dort initiativreich das Gegenmittel. Der Dramaturg Bernhard Lenort, Chordirektor Christian Möbius und Intendant/Regisseur Martin Schüler brachten „Opernchöre á la Carte“ auf die Bühne. Dieser Abend, sparsam inszeniert und für einige wenige Vorstellungen konzipiert, hat sich als Publikumsmagnet erwiesen und wurde in die neue Spielzeit übernommen. Das nächste ähnliche Projekt ist bereits angekündigt.

Bei solchem Erfolg ist es undenkbar, so hofft der Opernfreund jedenfalls, dass der Chor als finanzielle Belastung und Manövriermasse eines Operntheaters aufgefasst werden könnte.

Irene Constantin

 

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