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Zwiespältige Eindrücke
Die Salzburger Festspiele 2005 · Von Gerhard Rohde
Das Programm der Salzburger Festspiele enthält nicht nur
Opernaufführungen, sondern auch eine bemerkenswerte Vielzahl
von Konzerten in allen nur denkbaren Formationen: vom Sinfoniekonzert
bis zum großen Soloauftritt, vom Liederabend bis zur Präsentation
junger Virtuosen, von Composer-in-Residence-Veranstaltungen bis
zu Einsprengseln mit Neuer Musik. Gleichwohl dominiert in der Beurteilung
eines Salzburg-Jahrgangs ohne Einschränkung die Oper. Daneben
verblassen auch die Schauspielaufführungen, die doch einstmals
zu den Gründerzeiten Hofmannsthals und Reinhardts einen hohen
Stellenwert besaßen. Und über die Tanzkunst spricht in
Salzburg ohnehin überhaupt niemand mehr, ein neuer Start zu
Beginn der Ruzicka-Ära endete bereits nach dem ersten Versuch.
Die Oper trägt also die Verantwortung für das Renommee
der Festspiele. Wurde sie im Jahr 2004 diesem Anspruch gerecht?
Im Einzelnen: Bei Mozart, ungebrochen der Fixstern der Festspiele,
konzentriert sich alles auf das Jubiläumsjahr 2006. Intendant
Peter Ruzicka, dann in seinem letzten Amtssommer, will, wie bekannt,
alle 22 Bühnenwerke des Komponisten in Salzburg präsentieren,
in Eigen- oder Koproduktionen mit anderen Theater sowie als Gastspiele
auswärtiger Opernbühnen, die wohl besonders die frühen
Werke dem Mammutunternehmen zuliefern werden. Das alles verlangt
nach sorgfältiger Vorausplanung. Die Salzburger Festspiele
selbst werden vornehmlich die großen Operntitel als Eigenleistung
beisteuern: schon vorliegend „Don Giovanni“ und „La
clemenza di Tito“, beide inszeniert von Martin Kusej, den
„Idomeneo“ von Karl-Ernst und Ursel Herrmann aus der
Mortier-Ära, den „Figaro“ (2005) und „Zauberflöte
(2006, mit Ricardo Muti und David Alden). Bei den diesjährigen
Festspielen wurden „Die Entführung aus dem Serail“
aus dem Vorjahr und die von den Osterfestspielen 2004 übernommene
Aufführung von „Cosi fan tutte“ jubiläumsreif
gemacht.
Stefan Herheims „Entführung“, an der auch der
Dramaturg Wolfgang Willaschek maßgeblich mitgewirkt hatte,
präsentierte sich im zweiten Durchgang in stark überarbeiteter
und textlich revidierter Form. Die Absichten der Inszenierung treten
jetzt plastischer und plausibler hervor, die szenischen Gestalten
finden zu einer zwingenderen Einheit auch mit der Musik, deren gestischen
Reichtum, Empfindungstiefe und dramatischen Impulse die Dirigentin
Julia Jones mit dem Salzburger Mozarteum-Orchester nachdrücklich
ausbreitet. Im Vorjahr wirkte die Musik unter Ivor Bolton im szenischen
Getümmel oft wie verloren.
Aber nicht nur die szenisch-musikalische Balance erscheint jetzt
gewährleistet. Die optischen und textlichen Veränderungen,
die Herheim und Willaschek vornahmen, der Verzicht auf manchen planen
„Einfall“, lassen die tieferen Absichten und Schichtungen
dieser „Entführung in die menschliche Seele“ eindrucksvoll
hervortreten. Dass in einer so konzipierten „Entführung“
das orientalische Kolorit keine Funktion mehr besitzt, liegt auf
der Hand. Virtuos wird die Figur des Bassa Selim weggezaubert, deren
Texte auf die anderen Mitwirkenden verteilt: eine figurale Reflexion
über das Thema Aufklärung, die alle betrifft. Die Interpretation
schärft so zugleich ihren intellektuellen Ansatz – quasi
spielerisch. Und auch die Sänger wirken diesmal gelöster,
förmlich befreit: Diana Damrau, die Blonde des vergangenen
Jahres, sprang für die erkrankte Regina Schörg als Konstanze
ein: Sie sang die Partie mit einer wunderbar klaren Empfindungskraft,
technisch ohne Tadel. Laura Aikins Blonde stand ihr in dieser Klarheit
und Intensität nicht nach, gestaltete die Partie lebendig und
tonschön. Christoph Strehls Belmonte ist auf dem Sprung zum
genuinen Mozarttenor. Insgesamt hinterließ das „Entführungs-Ensemble
einen geschlossenen, für ein Festspiel akzeptablen Gesamteindruck.
Das kann auch für die vokale Seite der „Cosi fan tutte“-Aufführung
gelten. Tamar Iveris Fiordiligi ließ mit ihrem dramatisch
gesteigerten Singen Cecilia Bartolis Virtuosität fast vergessen,
nur in den Koloraturspitzen neigt die Stimme noch ein wenig zum
Ausreißen. Elina Garancas Dorabella erschien neben dieser
furiosen Fiordiligi beinahe als die Vorsichtigere, aber sie sang
alles abgerundet, tonschön und mit feinem Ausdruck. Eine Überraschung
bot der Ferrando von Saimir Pirgu: Da wächst ein großer
Mozarttenor heran, mit kernigem, ausdrucksstarkem Ton, dessen Singen
noch an linearer Stringenz gewinnen könnte, darin vergleichbar
Christoph Strehls Belmonte. Nicola Ulivieri war ein präsenter,
fein gerundet singender und plastisch gestaltender Guglielmo und
Helen Donath eine erfahrene, spielfreudige und gewitzt charakterisierende
Despina: eine Freude, soviel vitaler Sängererfahrung zu begegnen.
Dass Salzburg eine bedeutende Barock-Stadt ist, wird in den Spielplänen
der Festspiele nur selten erkennbar. Immerhin hatte man sich diesmal
entschlossen, Henry Purcells „King Arthur“ für
die Felsenreitschule zu inszenieren. Nikolaus Harnoncourt hatte
mit Feuereifer zusätzliche Musiken Purcells aufgespürt,
um die Dramaturgie der Dramatic Opera musikalisch aufzupolstern.
So wird das Sehend-werden der blinden Emmeline im dritten Akt jetzt
auch durch die Musik zu einer ergreifenden Szene. In Salzburg hatten
sich Harnoncourt und Regisseur Jürgen Flimm entschieden, die
Texte der Musik in englischer Sprache singen zu lassen, die gesprochenen
Passagen aber in deutscher Übersetzung. Solche Kompromisse
wirken stets leicht bis ziemlich provinziell, und gerade ein großes,
auf internationale Reputation bedachtes Festival, sollte sich entschließen,
ein Werk in seiner originalen Gestalt, zu der auch die Sprachgestalt
gehört, aufzuführen.
Purcells und seines Dichters
John Dryden Bühnenwerk wirkt in seiner Verbindung aus Musik,
Gesang, Tanz und Schauspiel wie eine Vorwegnahme heutiger Musicalformen.
Der Kampf König Arthurs und des grimmen Oswald um die schöne,
blinde Emmeline steht stellvertretend für den Streit zwischen
christlichen Briten und heidnischen Sachsen. Mit dem Sieg Arthurs,
mit Hilfe von viel Zauberei und strategischen Tricks errungen, steht
der Vereinigung der feindlichen Parteien zu einem harmonischen Miteinander
nichts mehr im Wege: Es lebe England.
Natürlich liegt die Idee eines Musicals nahe, doch man weiß
ja, dass viele Musicals nicht unbedingt das auszeichnet, was man
Inspiration nennt. So mündete Jürgen Flimms Inszenierung
nach zügig-griffigem Beginnen alsbald und immer stärker
ins Reich der Plattheiten. Das Stadttheater triumphierte über
den denkbaren barocken Kosmos und erreichte seinen Höhetiefpunkt
in einem tapsigen Pinguinballett zu Purcells genialer Frost-Musik.
Gegen soviel TV-Provinzialität kam auch Nikolaus Harnoncourt
mit seinem Concentus Musicus Wien nicht mehr an: Die Musiknummern
wirkten inmitten der müden szenischen Arrangements wie verloren,
es ergab sich zwischen gesprochenen und musikalischen Passagen kein
rhythmisch strukturiertes, dicht geknüpftes Kontinuum.
A propos TV-Provinzialität: Das Fernsehen übernahm insgeheim
auch die Regie für die mit Spannung erwartete Neuinszenierung
des „Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Entsprechend
war die Bühne des Großen Festspielhauses hergerichtet.
Erster Akt: Ein Riesenschlafzimmer der Marschallin mit Riesenbett,
alles in tiefen Rot- und Brauntönen. Links und rechts vom Luxusraum
weitere Räumlichkeiten in gleichen Farben, alles durch hohe
Flügeltüren verbunden, vor denen auf beiden Seiten befrackte
Diener wachen. Hinten vollendet ein Maler gerade ein riesiges historisches
Schlachtengemälde. Viel Personal ist in Bewegung, der Sänger
im weißen Anzug (strahlend Piotr Beczala) singt seine Arie
sowohl vor der Marschallin als auch im Nebenzimmer, schließlich
möchte die Fernsehkamera ein bisschen Abwechslung bieten.
Im zweiten Akt kommt’s noch pompöser: Das Stadtpalais
des zu Wohlstand gekommenen Herrn Faninal scheint selbst Versailles
übertrumpfen zu wollen. Eine lange Festtafel quer über
die gesamte Bühnenbreite, dahinter postiert eine Hundertschaft
von kakanischen Leutnants – das Militärische war im Land
eben eine äußerst präsente Gesellschaftsschicht.
Rosenkavalier Octavian reitet auf einem Schimmel in den Saal, die
silberne Rose hoch in der Hand haltend. Das lässt sich mit
tollen Kameraschwenks sicher glänzend einfangen und in Bewegung
halten. Und auch das leicht schäbige Wiener Beisl genügt
natürlich nicht für eine TV-Live-Übertragung. Ein
veritabler Puff muss es schon sein, mit vielen Türen, vor denen
Hürchen stehen und sich im Schritt waschen. Dahinter, wenn
sich die Türwand hebt, wieder das Raumarrangement des ersten
Aktes: das Riesenbett der Marschallin klappt nunmehr ordinär
aus der Wand. Das Weitere läuft wie gewohnt ab. Wenn Marschallin,
Octavian und Sophie ihr Terzett intonieren, spielen Inszenierung
und Ambiente keine Rolle mehr: Ein Stück herrlich inspirierter
Musik übernimmt stets die Herrschaft, egal ob sie nun einer
traditionellen Inszenierung oder einer modernisierten dient. Und
die Musik ist so schön, dass sie auch einem nicht besonders
festspielwürdigen Damenterzett über die vokalen Runden
hilft: Adrianne Pieczonkas Feldmarschallin unterschlägt weitgehend
das Heitere im Wesen der Figur, das diese schließlich selbst
als eine Hälfte ihres Wesens annonciert. Da schleicht ein bekümmertes
bürgerliches Frauenzimmer durch die Szenen, dem der jugendliche
Liebhaber abhanden gekommen ist, und auch der große Monolog
im ersten Akt gerät ziemlich transusig, wenn auch das Bemühen
um vokale Differenzierung und Sensibilisierung nicht verkannt werden
soll. Angelika Kirchschlager geht als Octavian gleichsam als Lokalmatadorin
(sie ist gebürtige Salzburgerin) ins Spiel, in dem sie dann
aber doch nicht so recht zu überzeugen vermag. Wie bei Pieczonkas
Marschallin bleibt auch der Octavian in der vokalen Abstrahlung
entschieden zu klein: man hört gesangliche Flachreliefs, denen
es an emotionaler und tonsinnlicher Verführungsgewalt mangelt.
Dass man sich gegen die vokal sicher ungünstigen Dimensionen
des Großen Festspielhauses durchsetzen kann, bewies Miah Persson
als Sophie: Ein bisschen zu modisch-modern-schick herausgeputzt,
überzeugte sie gesanglich durch einen klaren, sich straussisch
aufschwingenden Ton. Im Flachrelief verharrte dagegen auch der Ochs
auf Lerchenau von Franz Hawlata, während Franz Grundheber mit
ruhiger Gelassenheit und markanter Vokalität einen überzeugenden
Faninal auf die Bühne stellte. Dass Hawlatas Ochs so wenig
Plastizität, auch im Vokalen, zu entfalten vermochte, lag womöglich
auch an Robert Carsens’ Inszenierung. Carsens ist ein gewandter
Szeniker, der aus Text und Ton manchmal frappierende szenische Verwandlungen
herausliest. Dass sein „Rosenkavalier“, für den
ihm Peter Pabst die Bühne und die Kostüme erstellte, kurz
vor dem Ersten Weltkrieg spielt, ist seit Götz Friedrich nicht
gerade eine neue Erfindung.
Zu einer „Rosenkavalier“-Aufführung in Salzburg
gehören natürlich immer die Wiener Philharmoniker. Seit
Karajans Zeiten ist diese Oper eines ihrer Glanzstücke. Doch
ist ja die Zeit, wie man von der melancholischen Marschallin erfährt,
ein sonderbar’ Ding. Karajan ist tot, und wer wäre der
neue Maestro? Semyon Bychkov wohl kaum. Bychkov hat das Werk schon
mehrfach dirigiert, in Dresden und vor langer Zeit auch einmal bei
den Festspielen in Aix-en-Provence. Besonders große Entwicklungssprünge
in der Interpretation scheint es dabei nicht gegeben zu haben. Bychkov
setzt sich liebevoll schwelgend und klanglich genusssüchtig-pauschal
auf Straussens Partitur. Die „Wiener“ erfüllen
ihm diese Wünsche gern, weil ihr Musizierideal diesen Wünschen
nicht allzu fern ist. Ein bisschen mehr Modernität ließe
sich sicher aus der „Rosenkavalier“-Musik herausdestillieren.
Nach soviel eher zwiespältigen Operneindrücken konzentrierten
sich die Hoffnungen auf die letzte szenische Premiere der diesjährigen
Festspiele. Peter Ruzickas Vorhaben, in jedem Jahr eine Oper eines
Exil-Komponisten zu präsentieren, wurde diesmal mit Wolfgang
Erich Korngolds 1920 uraufgeführter Oper „Die tote Stadt“
fortgesetzt. In Willy Deckers ein wenig übertheatralisierter,
aber insgesamt sauber und intelligent ausgeformter Inszenierung
hinterließ Angela Denoke, die die Marietta sang, den stärksten
Eindruck. In der nächsten Ausgabe von „Oper & Tanz“
werden wir im Rahmen eines Porträts der Sängerin Angela
Denoke auch auf die Aufführung der „Toten Stadt“
eingehen.
Gerhard
Rohde
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