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Nike in Weimar
Eröffnung des Kunstfestes „Pèlerinages“
· Von Frieder Reininghaus
Weit über tausend Festivals überbrücken und schmücken
den Sommer. Vor allem betönen sie Schlösser und Scheunen,
Gärten und umgewidmete ausrangierte Industrieanlagen. Sie tun
dies mit so manchem (musikalischen) Gemeinplatz. Wirkliche „Festspielwürdigkeit“
hingegen intendiert ein unter Leitung der Kulturwissenschaftlerin
Nike Wagner in neuer Form präsentierter Weimarer Kultursommer:
„Ich will kein besinnungsloses Spaß- und Event-Kultur-Festival
hier machen, sondern ein genau strukturiertes, dramaturgisch sinnvoll
zusammengebautes Festspiel-Konzept bieten“, unterstreicht
die ziemlich blaublütige Ur-Urenkelin der Gräfin Marie
d’Agoult und des genialen Franz Liszt.
Weimar erscheint als der rechte Ort, um über „das vertrackte
Verhältnis von Tradition und Neuerung“ nachzudenken,
über „Bewahrung und Veränderung – kurz, über
den gegenwärtigen Kulturzustand und Zeitgeist“. Und immer
wieder über Historisches.
Nike Wagner hat sich auf ein schwieriges Pflaster eingelassen.
Die Erwartungen der Politiker, die das Weimarer Kulturleben besonders
fördern, und die des Publikums vor Ort, das möglichst
zum Nulltarif genießen will, treten ebenso weit auseinander
wie museal-kulturkonservative Erwartungen und moderne Aufgeschlossenheit
der Gäste von auswärts: „Das ist alles nicht ganz
leicht. Unsere Zeiten sind nicht sehr günstig für Festspiele
– der Staat zieht sich ständig zurück aus der Kultur-Subvention.
Man muss irgendwo mitten hindurch – ich gehe trommeln, ich
gehe betteln, ich werbe auch mit dem alten Namen Weimar im Rücken
für ein Festival. Gerade hier in Weimar ständig die Moderne
anzuschieben, macht Spaß, da es die Moderne hier immer schwer
gehabt hat.“
Die Stadt mit dem wechselvollen politischen Schicksal und die
besondere kulturelle Aura wurden seit 1990 weitgehend und fast immer
vorbildlich restauriert: Die Ortschaft, in der die Verfassung der
ersten deutschen Republik ausgehandelt wurde und die der Zwischenkriegszeit
den Namen gab, erscheint als tadelloses Freilichtmuseum. Das muss
nun mit historischem Sinn und aktuellem politischem Verstand, nicht
nur in Opulenz und Genussfreude bespielt werden. An Schrecken und
Verderben, die Verbrechen im Lager Buchenwald direkt oberhalb der
Stadt, sollte das Eröffnungskonzert erinnern. Es wurde aus
gutem Grund nicht am „Originalschauplatz“ im ehemaligen
nationalsozialistischen Konzentrations- und sowjetischen Gefangenen-Lager
ausgerichtet, sondern mitten in der Stadt im Kongress-Zentrum –
an einem neutralen Ort, der die fast ungeteilte Konzentration auf
die Musik erlaubt. Dass aber nichts im „pèlerinages“-Programm
sich auf den Kontinent der antifaschistischen oder antistalinistischen
Musik bezog, erschien als postmoderne Volte: Optimistisch und „lebensbejahend“
sollte die Musik sein, die da nach so langer Zeit erinnert. Vor
Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ tat dies die Koppelung
des durch die Nazi-Zeit besonders kontaminierten „Lohengrin“-Vorspiels
von Urgroßvater Richard Wagner mit György Ligetis „Atmosphères“.
Marc Albrecht (als Sohn des früheren Weimarer GMD George-Alexander
Albrecht) durchmaß sie mit der ortsansässigen Staatskapelle.
Der Geist des in Weimar zeitweise zur Ruhe gekommenen umtriebigen
Franz Liszt war höchst präsent: Junge Russen stemmten
sein Es-Dur-Konzert in den luftig frischen regnerischen Schlosshofabend
(und von nebenan drang schon die Rockband gewaltig herüber,
die den Weimarern zum plebiszitär akzeptierten Tanz aufspielte).
An Liszt als Mann der entschiedenen Moderne des 19. Jahrhunderts,
des Fortschritts, der Zukunft, erinnerte nicht nur die Eröffnungsmatinee
mit einem brillanten Vortrag der Festspiel-Intendantin. Marc-André
Hamelin zelebrierte und beschleunigte die „Suisse“-Bilder
aus Liszts „Années de pèlerinage“. Im
Nachtprogramm und vor Ken Russels auf Großbildleinwand präsentierter
„Lisztomania“ wurde die mediale Aufbereitung der auf
zwei Klaviere übertragenen Dante-Symphonie präsentiert.
Sunnyi Melles las mit etwas schwacher Stimme die Verse, auf die
sich die symphonische Dichtung bezog. Zu diesem Melodram kamen bewegte
Bilder. Sie operierten mit den von Liszt bei Bonaventura Genelli
in Auftrag gegebenen Illustrationen in ihrer schwülen Weiterentwicklung
durch Gustave Doré: Von Charon mit dem Ruder bis zu den Engelsscharen
doppelten und kontrapunktierten sich Texte, Töne und Bilder
zur großen Himmelfahrt. Die erschien durchaus geschmackvoll
und exquisit. Und am nächsten Morgen ein von politischen Heimwehgedanken
genährter Frühschoppen der ehemaligen Herren und Damen
der Geschichte, die sich zu Bürgern in einer unterschiedlich
demokratisch verfassten Gesellschaft promovieren mussten: Prinz
Michael vom einst ortsansässigen Geschlecht lud ein paar Standesgenossen
und Rolf Hochhuth zum Disput. Später wurde sogar das Wandern
wieder zur Kunstform geadelt – mit klingendem Wort und Spiel
ging es von Oßmannstedt zu Goethes Gartenhaus oder zur Liszt-Orgel
nach Denstedt. Vielleicht ist auch da der Weg das Ziel.
Frieder
Reininghaus
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