Die Intonation im Chor
Ausschnitte aus einer Diplomarbeit von Ulrich Barthel
Es steht außer Frage, dass sowohl bei Profi- als auch bei
Laienchören die „perfekte“ Intonation im Chor immer
das höchste Ziel ist. Schon als Sänger im Thomanerchor
hat Ulrich Barthel erlebt, dass dieser Anspruch immer wieder neu
erarbeitet werden muss. Als Chorleiter des Leipziger Studentenchores
„vivat academia“ ist es seine Aufgabe, den Chor für
die richtige Intonation zu sensibilisieren, sei es bei der Einstudierung
eines neuen Werkes, bei der Vorbereitung auf ein Konzert oder einen
Chorwettbewerb oder bei CD-Aufnahmen. Die Erfahrungen als Chorsänger
und als Chorleiter motivierten ihn, das Thema „Intonation
im Chor“ im Rahmen einer Diplomarbeit im Studiengang Chordirigieren
eingehend zu behandeln. Dabei ging es nicht originär um Profi-Chöre.
Die vorliegende Veröffentlichung stellt eine Zusammenfassung
der Ergebnisse dieser Arbeit dar.
Thesen
- Jeder Chor kann lernen, sauber zu singen.
- Erste Voraussetzung dazu ist bei allen Chorsängern die
Beherrschung des eige- nen Stimmapparats.
- Das Klavier ist in der Probe lediglich ein brauchbares Hilfsmittel.
- Intonationsarbeit ist Arbeit am Chorklang.
- Der Spannungsbogen „Sta- biler Klang – bewegliche
Melodik“ bildet die Grund- lage der Intonationsarbeit.
- Bezugspunkt der A-cappel- la Musik ist die natürlich-
harmonische Stimmung.
- Andere Stimmungssyste- me sind für einen Chor nur mit
Hilfe instrumentaler Unterstützung realisierbar.
Die Intonation ist ein Markenzeichen eines jeden Chores. Genau
wie andere Qualitäten, wie etwa die Textverständlichkeit
oder die gemeinsame musikalische Gestaltung lässt sie sich
erlernen.
Es besteht aber ein wesentlicher Unterschied in der Wahrnehmung
dieser Qualitäten durch die Chorsänger. Während wohl
jeder die ungenaue Aussprache eines Konsonanten wahrnimmt, ist es
viel schwieriger, einen unsauber gesungenen Ton im Gesamtklang zu
erkennen. Ziel der Arbeit an der Intonation ist also in erster Linie
die Sensibilisierung dieser Qualität.
Stimmliche Voraussetzungen
Von großer Bedeutung ist die Beherrschung des Vokalausgleichs.
Sowohl die Mischung der helleren und dunkleren Vokale in der Einzelstimme
als auch die Angleichung der Vokale innerhalb der Stimmgruppe, ja
sogar innerhalb des ganzen Chores, sind unverzichtbar. In vielen
Fällen klingt ein Akkord nur „unsauber“, weil die
Vokale in den Stimmgruppen völlig unterschiedliche Klangfarben
besitzen.
Ebenso wichtig für Intonationsarbeit ist der Registerausgleich,
also der fließende Übergang zwischen den Stimmregistern.
Die Sänger müssen in jeder Lage die Töne voll kontrollieren
können. Nur der „gestützte“, körperlich
verankerte Ton ist in seiner Intonation abgesichert und eindeutig
bestimmbar. Ein Zu-hoch-Singen, das eindeutig auf stimmlichen Ursachen
beruht, wird verursacht durch ein „Überstützen“
eines Tons. Zu viel Atemluft drückt von unten auf den Kehlkopf
und macht eine saubere Tongebung unmöglich. Umgekehrt kann
das Zu-tief-Singen zurückgeführt werden auf einen Mangel
an sängerischer Grundspannung.
Das Klavier – ein bedingt brauchbares Hilfsmittel
Das Klavier ist nur in der Einstudierungsphase nützlich.
Es gibt dem Chor eine stabile Grundlage und ist gut geeignet, um
bestimmte Tonfolgen plausibel zu machen, oder um bestimmte harmonische
Wendungen zu verdeutlichen. Das Klavier in seiner Stimmung ist dann
der Bezug des Chores, an dem er sich orientieren kann und muss.
Wird der Chor durch das Klavier unterstützt, treten in jedem
Fall Diskrepanzen zwischen gesungenem und gespieltem Ton auf. Der
Chorleiter muss entscheiden, ob es sich dabei um „falsche“
oder „unsaubere“ Töne handelt oder ob die Abweichungen
dem Unterschied zwischen der Stimmung des Klaviers und der (natürlichen)
Stimmung des Chores zuzuschreiben sind.
Ist das Stadium der Sicherheit im Notentext erreicht, so ist aber
unbedingt zu empfehlen, zunehmend ohne Klavier zu proben. Zum einen
wird das Klavier von den Chorsängern oft akustisch gar nicht
wahrgenommen, wenn der gesamte Chor singt. Zum anderen widerspricht
der Klavierton dem homogenen Chorklang und auch als Mittel zur Intonationsschulung
ist das Klavier ungeeignet.
Angenommen, der Chor hat in der Probe die Ausgangstonart eines
Stückes verlassen, obwohl er vom Klavier begleitet wurde: Die
Chorsänger vergleichen dann jeden gesungenen Ton mit dem Klavierton
und versuchen, meist vergeblich, die Originaltonart wieder zu erreichen.
Der Chorklang wird dadurch sehr verkrampft und unfrei, das klangliche
Ergebnis ist für die Sänger unbefriedigend und die Ursache
für die Intonationsschwäche ist nicht gelöst. Dieses
aktive Korrigieren des ganzen Chores widerspricht grundsätzlich
dem Sinn der Intonationsarbeit. In der Regel ist die Ursache für
ein Intonationsproblem nur ein Einzelton, der ungenau getroffen
oder unbewusst vernachlässigt wird und damit einen ganzen Abschnitt
aus seiner Lage geraten lässt.
Verzichtet der Chorleiter auf das Klavier, so kann er den Chorklang
viel besser beurteilen und die Intonationsarbeit effektiver gestalten:
Er kann den Einzelton oder die Einzelstimme heraushören und
benennen, der oder die Grund für die Intonationstrübung
ist, und dann ganz konkret an der Verbesserung dieses Tons oder
der Phrase arbeiten. Die Sänger werden einerseits gezielt auf
die betreffende Ursache aufmerksam gemacht, das heißt für
die musikalische „Schwierigkeit“ sensibilisiert, ihnen
werden andererseits konkrete Korrekturmöglichkeiten vermittelt.
Intonationsschulung als Arbeit beim Chorklang
Die Arbeit an der Intonation wirkt sich unmittelbar auf den Klang
des Chores aus. Ausgangspunkt ist die Verlagerung der Konzentration
von der eigenen Stimme hin zur Funktion der eigenen Stimme im Gesamtklang.
Die Chorsänger sollen das Gefühl bekommen, dass die gesungenen
Töne in der Harmonie „einrasten“ und der Klang
tragfähig ist. Ziel muss sein, der Intonation eine Intention
zu geben, um damit den Klang zu verfeinern. Dabei ist immer auf
die Balance zwischen der musikalischen Linie und der zu Grunde liegenden
Harmonie zu achten. In diesem Spannungsfeld ist es zunächst
der Zielklang, der die Schrittgröße der einzelnen Stimmen
endgültig festlegt. Von kleinen Tonschritten hat der Chorsänger
kein genaues Hörbild, er orientiert sich vorwiegend an der
zu Grunde liegenden Harmonie und ist durch das Voraushören
des harmonischen Zieles in der Lage den jeweiligen Tonschritt einzupassen.
Dieses Prinzip, „stabiler Klang – bewegliche Melodik“,
ist die Grundlage der Intonationsarbeit”. Die natürlich-harmonische
Stimmung bietet eine sichere Grundlage für die Intonationsschulung.
Basis sind die reinen Intervalle der Oktave, Quinte und auch die
Naturterzen. Bei richtiger Einstimmung geben sie das Gefühl
eines völlig in sich ruhenden Klanges, der schwebungsfrei klingt.
Das geschieht jedoch nur, wenn neben der Tonhöhe auch auf die
einheitliche Tongebung mit gleicher Vokalfärbung und Lautstärke
geachtet wird. Dieses Prinzip der reinen Intervalle und ruhenden
Klänge dient vor allem der Sensibilisierung und Stabilisierung
für bestimmte Klänge. Belebt wird der Chorklang jedoch
vor allem durch die Beweglichkeit bestimmter Tonschritte, die beispielsweise
aus einer „ruhenden“ eine „leittönige“
Terz werden lassen. Darin liegt der Reiz der Arbeit an der Intonation.
Es wurde zudem untersucht, ob solch kleine Tonhöhenunterschiede
vom Chorsänger tatsächlich wahrgenommen werden können.
Dabei spielt das Phänomen des „Zurechthörens“
eine entscheidende Rolle. Es beschreibt die Unabhängigkeit
der Intervallauffassung von genauer Intonation. Untersuchungen haben
ergeben, dass es tatsächlich möglich ist, bei isoliert
dargebotenen Klängen unterschiedliche Stimmungssysteme zu erkennen.
Das bloße Empfinden, ob ein Klang „sauber“ ist,
erlaubt dagegen viel größere Toleranzen. Entscheidend
ist es daher, die Chorsänger für diese kleinen Unterschiede
zu begeistern.
Musizieren mit historischem Instrumentarium
Beim gemeinsamen Musizieren eines Chores mit „historischem“
Instrumentarium muss der Chor ganz bewusst von der natürlich-harmonischen
Stimmung abweichen können. Er muss in der Lage sein, über
die bloße Transposition hinaus, sich in die andere „Stimmung“
zu versetzen. Ein Beispiel: In der mitteltönigen Stimmung sind
die Terzen in den zur Verfügung stehenden Tonarten rein, die
Quinten sind etwas enger als die reinen Intervalle. Vor allem sind
es aber die unterschiedlichen Größen der Halbtöne,
die besonders beachtet werden müssen.
In der A-cappella Musik ist vor allem die Ausrichtung auf die harmonischen
Zielklänge von Bedeutung, dem sich die melodischen Schritte
beweglich anpassen. In der von Instrumenten begleiteten Chormusik
muss nun auch den melodischen Schritten besonderes Augenmerk gelten,
nicht nur wenn bestimmte Instrumente die Chorstimmen mitspielen.
Meiner Meinung nach besteht die einzig praktikable Möglichkeit
in der Verwendung einer entsprechend gestimmten Orgel schon im Einstudierungsprozess.
Der Chorsänger kann nur auf diese Weise ein Gefühl für
dieses System entwickeln. Die Orgel muss dann die Chorstimmen vor-
und mitspielen, um den Sänger für die unterschiedlichen
Tonschritte zu sensibilisieren. Eine Einstudierung A-cappella oder
mit Klavier ist nicht sinnvoll und eine spätere Einbeziehung
der Orgel oder der anderen Instrumente käme dem Erlernen eines
neuen Stücks gleich. Anweisungen, bestimmte Tonschritte enger
als gewöhnlich zu singen sind zu ungenau, als dass sie dauerhaft
verlässlich umgesetzt werden könnten.
Setzt man aber die Orgel rechtzeitig im Einstudierungsprozess
ein, so ist bei entsprechender stimmlicher Qualität des Chores
durchaus eine spürbare Änderung der Intonation erkennbar.
Inwieweit sich nun die Anwendung einer solchen Stimmung im Chorgesang
auf das A-cappella- Singen auswirkt, müsste noch untersucht
werden.
Ulrich
Barthel
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