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Vergebliche Skandal-Erwartung
Schlingensiefs Bayreuther Parsifal · Von Juan Martin Koch
Fünfzig Prozent seiner Bilder und Ideen könne er bis
zur Premiere vielleicht umsetzen, hatte Christoph Schlingensief
im Vorfeld der Parsifal-Premiere verlauten lassen. Die Tradition
im Hinterkopf, der zufolge eine Bayreuther Produktion als „work
in progress“ über die Jahre hinweg stets für Überarbeitungen
offen ist, kann man diese Einschätzung wohl nur als Drohung
verstehen. Denn wo will Schlingensief die übrige Hälfte
seines Assoziationszettelkastens eigentlich ausschütten? Eine
noch schneller rotierende Drehbühne werden selbst die bewundernswerten
Bayreuther Techniker nicht umdekorieren können und nach den
Möglichkeiten sinnlicher Erfahrbarkeit fragt ohnehin niemand.
Womit das eigentliche Ärgernis dieser so gar nicht zum Skandal
sich eignenden Inszenierung angedeutet wäre: Schlingensiefs
Desinteresse (oder war es am Ende doch mangelnder Mut?) an der Zuspitzung
oder wenigstens Verdeutlichung der einen oder anderen Assoziation.
Voodoo und nepalesisches Ritual, Beuys’sche Hasen, Zitronen,
Hirtenstäbe und ein Friedhof der Kunst von Michelangelo bis
Warhol, die Gralsritter mal als Vertreter der Weltreligionen (1.
Akt), mal als historische Herrscher und Diktatoren (3. Akt) kostümiert
– die Liste ließe sich ins Endlose fortsetzen und wäre
vielleicht die einzig angemessene Form der Beschreibung. In der
Fülle indes neutralisiert sich das alles, verliert sich im
Bedeutungslosen.
Das beginnt schon bei den mit Halbdunkel noch euphemistisch umschriebenen
Lichtverhältnissen, die es schlicht nicht zulassen, dem einen
oder anderen Detail in Requisite oder Kostüm Aufmerksamkeit
zu schenken, und setzt sich fort in den zahllosen, hier bedeutungsschwangeren,
dort albernen Graffitis. Optisch dominieren ohnehin die Videosequenzen,
die freilich nur einmal, bei der Verwandlung zum zweiten Bild des
ersten Aktes, so etwas wie Bühnenwirkung entfalten. An dem
verwesenden Hasen und anderem mehr oder weniger appetitlichen Getier
hat man sich dann aber auch schnell satt gesehen.
Sänger sind auch unterwegs. Dass sie sich offenbar nichts
zu sagen haben, nimmt man noch achselzuckend zur Kenntnis, dass
ihre bescheidenen Aktionen aber in so gar keine Beziehung zu dem
treten, was da auf der Bühne herumsteht und -liegt, langweilt
schlicht. Der – mit Ausnahme der Blumenmädchen und des
einmal mehr überwältigenden Festspielchores – durchweg
nur auf mittlerem Niveau sich bewegende Gesang tut hier ein übriges:
Robert Holls mit unbeteiligtem Wohlklang einlullender Gurnemanz,
Alexander Marco-Buhrmesters mehr angestrengt denn ergreifend leidender
Amfortas, John Wegners zumindest scharf charakterisierter Klingsor
haben (an diesem 18. August) ebenso wenig Festspielformat wie Michelle
de Youngs in der Mittellage monochrome Kundry und Endrik Wottrichs
auf ein paar solide Spitzentöne sich verlassender Parsifal.
Den verschämt im Pressebüro ausliegenden „Notizen“
des Dramaturgen Carl Hegemann, die „zur Selbstverständigung
im Arbeitsprozess“ dienten, dürfen wir nun aber entnehmen,
dass es Schlingensief darum gegangen sei, im Sinne einer Nahtoderfahrung
„mit film-, kunst- und zeitgeschichtlichen Elementen, die
den Regisseur bewegen“ zu erkunden, „wie wohl ein solcher
Film aussehen könnte, der in unserer Todesstunde abläuft.“
Nicht allein die für den Parsifal zentrale Todessehnsucht,
sondern die Todeserfahrung selbst wäre also Schlingensiefs
Thema gewesen. Nun, wir haben Kundry – einer der wenigen luziden
Momente – im Augenblick ihrer Taufe sterben sehen; wir haben
– und hier beweist Schlingensief wenigstens Mut zum Kitsch
– gesehen, wie Parsifal zum Schluss dem Licht am Ende des
Tunnels entgegen schreitet. Doch hat sich darüber hinaus und
bis auf die trostlos sinistre Stimmung, die das Ganze ausstrahlt,
etwas von dieser ja nicht so abwegigen Idee vermittelt? Und entwickelt
sich daraus in Verbindung mit dem Erklingenden so etwas wie Musiktheater?
Nicht wirklich, im Grunde hat man den ermüdenden Eindruck,
einer zufällig zu Wagners Musik sich abspielenden szenischen
Installation beizuwohnen, was seine Entsprechung kurioserweise ausgerechnet
in Pierre Boulez’ erneut zügigem Dirigat findet.
Gewiss, wir haben gehört, wie die instrumentalen Schichten
eines beispielhaft präzisen Festspielorchesters sich in totale
Transparenz auseinanderfalten, wir haben Wagner den Orchesterklang
für das 20. Jahrhundert aufschließen gehört, und
doch hätte auch eine konzertante Aufführung kaum theaterferner,
ja kaum teilnahmsloser ausfallen können. Wüsste man nicht,
dass Boulez den Regiedebütanten gegen manche Kritik verteidigt
hat, könnte man meinen, er arbeite – nicht ganz in Wagners
Sinne, aber doch dessen Seufzer angesichts der szenischen Probleme
im Bewusstsein – am allmählichen Erstarren des Bühnengeschehens
bis hin zu dessen Verschwinden: „Nachdem ich das unsichtbare
Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater
erfinden!“
Juan
Martin Koch
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