|
Wer da abergläubig ist, dem konnte der Beginn der neuen Spielzeit
schon einen kalten Schauder den Rücken runterlaufen lassen.
Erst verhagelte und verregnete der erste Abschnitt des so genannten
Sommers die Freilicht-Festspiele und Open-Air-Aufführungen,
was vor allem die auf jeden Eurocent an Einnahmen angewiesenen Theater
in Neustrelitz, Schwerin und Stralsund hart getroffen hat, dann
soff die Bühne des Kieler Opernhauses ab, weil eine defekte
Sprinkleranlage 250 Kubikmeter Wasser auf Bühnentechnik und
elektronische Anlagen stürzen ließ, und noch lange nicht
zu schlechterletzt brach nach Bau- und Schweißarbeiten in
der aluminiumverkleideten zweischichtigen Dachkonstruktion der Bonner
Oper ein Feuer aus, das auch wegen des Löschwassers erheblichen
Schaden verursachte.
Dass Passanten und nicht etwa die Feuermelde-Technik die Feuerwehr
alarmierten, leitet zu den nächsten Omen über. Hamburgs
Schauspielhaus musste die Spielzeit-Eröffnungspremiere um vier
Tage verschieben, weil die – obwohl bisher von keinem Haustarifvertrag
betroffene – Drehbühne streikte und in Hamburgs Thalia-Theater
ersuchte der Intendant das auf die Premiere von Schillers Jungfrau
wartende Publikum, doch bitte wieder nach Hause zu gehen, da ebenfalls
Arbeitsverweigerung zu verzeichnen sei: die Elektronik der Bühnen-Obermaschinerie
wolle nicht mitspielen.
Gleichzeitig galt es zu verarbeiten, was – ohne Anspruch
auf Vollständigkeit – auf unseren „Brennpunkte“-Seiten
7 und 8 dieser Ausgabe berichtet wird: weiterer Stellenabbau, angedrohte
Schließungen, Gehaltsverzichtsverträge, Zuwendungskürzungen.
Und als sei das alles noch nicht genug, kündigte die Fachzeitschrift,
„Die Deutsche Bühne“ in ihrer September-Ausgabe
unter der wahrhaft köstlichen, auf Christoph Schlingensiefs
Bayreuther Medienspektakel mit Musik gemünzten Überschrift
„Avanti dilettanti!“ an, dass weitere „professionell
unbeleckte Medienstars (Doris Dörrie, Daniel Libeskind, Bernd
Eichinger, Percy Adlon) auf Werke der repräsentativen Großform
Oper“ angesetzt würden: „Regisseure, die ‚es‘
zwar (oft erklärtermaßen) ‚nicht können‘,
aber dafür originelle Ideen aus einem fremden Metier und Liebe
zur Sache mitbringen. Von Liebe leitet sich bekanntlich der Begriff
‚Amateur‘ ab.“ Das kann ja lieblich werden.
Doch vor dem endgültigen Versinken in tiefe Melancholie retten
selbst den Abergläubigen zwei dicke, zahlengespickte Broschüren,
die vom Deutschen Bühnenverein zusammengestellten Werk- und
Wirtschaftsstatistiken. Sie lesen sich, mögen sie auch jeweils
um eine Spielzeit der Aktualität hinterherhinken, wie ein jährlicher
„Bericht an die (Theater-)Nation“. Und siehe da: Allen
wirtschaftlichen Schwierigkeiten, auch allen Unkenrufen zum Trotz,
hat sich das deutsche Theater in der Spielzeit 2002/03 nicht nur
bewährt, sondern mehr Zuschauer gewonnen, weniger Kosten verursacht.
Mehr als 19,9 Millionen Zuschauer, 358.000 mehr als in der Spielzeit
2001/02, haben die 64.728 Aufführungen der öffentlichen
Bühnen besucht; Theater und Kulturorchester vermochten es,
ihre Einspielergebnisse auf durchschnittlich 16,4 Prozent des Budgets
zu erhöhen. Der durchschnittliche Betriebszuschuss pro Besucher
sank dementsprechend von 96,07 Euro auf 94,62 Euro.
Besucherzuwächse konnten vor allem – auch wegen des
gesteigerten Angebots – das Kinder- und Jugendtheater (plus
acht Prozent) sowie das Schauspiel (plus drei Prozent) verzeichnen;
den geringeren Zuwächsen in der Sparte Musiktheater stehen
allerdings rückläufige Besucherzahlen der 48 Kulturorchester
gegenüber: den Verlust von 76.000 Besuchern (minus drei Prozent)
mussten sie hinnehmen. Die Kürzungen der Zuweisungen und die
Kostensteigerungen machten sich beim Personalstand bemerkbar: 152
Beschäftigte der Theater (ein halbes Prozent) und 180 Musiker
(fünf Prozent) verloren in der Spielzeit 2002/03 ihren Arbeitsplatz.
Die Theaterstatistik wertet die Daten von 150 öffentlichen
Theatern, 216 Privattheatern,
48 Kulturorchestern und 37 Festspielhäusern aus. Die Zuschauerzahlen
all dieser Einrichtungen beliefen sich auf 35,2 Millionen Besucher,
eine Viertelmillion mehr als in der Spielzeit 2001/02.
Zweierlei zeigt die Statistik: Die aktuelle Theaterkrise ist eine
wirtschaftlich bedingte. Und: Krisen sind Herausforderungen, denen
das Theater sich aber nur zeitlich begrenzt zu stellen vermag, nur
so lange, bis der Verlust an personeller Substanz in den Qualitäts-
und damit auch Attraktivitätsverlust umschlägt.
Ihr
Stefan Meuschel
|