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Inhaltlich neu und zukunftweisend
Die RuhrTriennale in ihrem zweiten Jahr · Von Johannes
Hirschler
Also doch Wagner. „Wagner wäre ein Punkt“, sinniert
der künftige Intendant Jürgen Flimm im Gespräch mit
der Kulturzeitschrift K. West, und steckt mit Luigi Nonos „Prometeo“
und einem Salieri-Projekt mit Cecilia Bartoli weitere Eckpunkte
für die Zeit von 2005 bis 2007 ab. Sein Vorgänger Gerard
Mortier, noch im Amt bis 2004, wies die Idee, die Allegorie frühkapitalistischer
Gesellschaftsverhältnisse, als die Wagners „Ring“
ja gern interpretiert wird, in aufgelassenen Gießereien zu
spielen, schon im Vorfeld weit von sich. Einer der Fäden seiner
Dramaturgie, der die Aufführungen der vergangenen Hauptsaison
miteinander verknüpft, zielt nicht auf die Bestätigung
des Gewesenen, auf die Geschichte des Ruhrgebiets als Europas wirtschaftlichem
Motor der vorangangenen Jahrhundertwende, oder darauf, die Wunden
an Landschaft und Seelen zu balsamieren. Hier, wo das Wort „Kathedrale“
nicht einen religiösen Ort, sondern riesenhafte Produktionsstätten
meint, hier, in den Kulissen des allgegenwärtigen Materialismus’,
schickte Mortier seine Künstler auf die Suche nach Gott zur
„Wiedererrichtung des Himmels“.
Tadelloser Chor
Das begann im Mai mit Arthur Honeggers „Jeanne d’Arc
au bûcher“ am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier,
ein gelungenes Beispiel für die Koproduktionen der RuhrTriennale
mit den Theatern vor Ort. Die Schauspielerin Dörte Lyssewski
vom Bochumer Schauspiel konzentrierte das ganze Drama um die hellgesichtige
französische Bauerntochter in ihrer Stimme, von Stanislas Nordeys
Inszenierung auf einen Lichtfleck in Front des tadellos agierenden
Chores gebannt. Man kann darüber streiten, ob die statische
und vordergründige Szenerie, die Nordey als Gerichtsverhandlung
in aufsteigenden Reihen arrangiert, dem dramatischen Oratorium gerecht
wurde. Außer Frage steht aber die bewegende Intensität,
mit der Orchester und Solisten des Hauses unter Marc Piollet musizierten.
Freier Atem
Für Olivier Messiaens spirituelles und musikalisches Testament
„Saint François D’Assise“, das seit seiner
Uraufführung 1982 mit der Bochumer Produktion erst die vierte
Inszenierung erfuhr, war die Jahrhunderthalle der angemessene Ort.
Das Künstlerpaar Ilya und Emilia Kabakov beantwortete die Herausforderung
der in ihren Dimensionen wuchtigen, in ihren Strukturen aber filigranen
Konstruktion mit einem gigantischen Lichtdom. Über 30 Meter
hoch und mit seiner Öffnung um 60 Grad zum Publikum geneigt
korrespondiert die permanent wechselnde farbige Beleuchtung seines
Maßwerkes, die subtil das abklingende Tageslicht integrierte,
mit den unendlich vielen Klangschattierungen des Orchesters. Die
spärliche äußere Handlung arrangierte Giuseppe Frigeni
naturalistisch auf einem um Kuppel und Orchester umlaufenden Metallsteg,
ohne damit die entrückende Aura der Musik zu durchkreuzen.
Die Diskussion mit dem inneren ästhetischen Zensor, der sich
Messiaens ungehemmter Synthese disparater Stile, der ungebrochenen
Naivität seiner Feier von Franziskus Gottessuche zunächst
nicht widerstandslos hingeben wollte, verstummte alsbald unter dem
Dirigat von Sylvain Cambreling und seinem präzisen und souveränen
Umgang mit den riesenhaften Proportionen der fünfstündigen
Oper. Mit freiem Atem wischte er am Dirgierpult alle Bedenken fort,
gemeinsam mit dem Sinfonieorchester des Südwestrundfunks und
den noch im äußersten Pianissimo kristallklaren Chören
des WDR und des Dänischen Rundfunks. José van Dam, zum
dritten Mal in der Titelpartie zu hören, erwies sich als glaubwürdiger
Franziskus, dem Heidi Grant Murphy (L’Ange) und Roland Bracht
(Frère Bernard) in nichts nachstanden, um nur zwei der Solisten
zu nennen.
Gute Akustik
Wenn die Jahrhunderthalle inzwischen zum Zentrum der RuhrTriennale
avanciert ist und mit 98 Prozent in der Herbstsaison die beste Auslastung
aller Spielstätten ausweist, verdankt sie das unter anderem
Produktionen wie „Saint François D’Assise“,
die etwas riskieren, die sich ganz dem genius loci überlassen
und den Raum in seinen Möglichkeiten erforschen wollen. Geert
Peymen etwa stellte für die Kreation „Sentimenti“,
die ansonsten wenig glücklich die Ruhrpott-Saga „Milch
und Kohle“ von Ralf Rothmann mit Verdi-Arien bricht, ein Bühnenbild
ganz aus Kohlebriketts in die schwindelnde Weite und erinnert so
auf unaufdringliche Weise an die Geschichte der Region und ihrer
Menschen. Inzwischen hat man auch mit diskret verborgener elektronischer
Unterstützung die Akustik in der variabel teilbaren Halle sehr
gut im Griff. Das gilt auch für die Gebläsehalle im Duisburger
Landschaftspark, wo vor der Sommerpause mit „The Temptation
of St. Anthony“ von Robert Wilson und der Gospelmusikerin
und Historikerin Bernice Johnson Reagon die Aufmerksamkeit ein weiteres
Mal auf französische Gottsucher gelenkt wurde. Bernice Johnson
Reagon entkernte Gustave Flauberts Roman „Die Versuchung des
heiligen Antonius“ bis auf ein dünnes Handlungsgerüst
und destillierte seinen enzyklopädisch wuchernden Versuchungskatalog
und die Hieronymus Bosch verwandte Drastik und Detailgenauigkeit
auf ein kirchentags-kompatibles Weihespiel. Gemessen an den Kategorien
einer Gospelshow vermochten die Sänger und die fünfköpfige
Band mit dem bunten Spektakel in der bewährten Ästhetik
von Wilsons Bühnen-Origami in Slow-Motion allerdings zu überzeugen.
Kürzungen
42 Millionen Euro sind für ein auf jeweils drei Jahre angelegtes
Festival aus der Sicht eines Intendanten nicht viel. Da ist viel
Technik zu bezahlen, Hallenmieten, Werbung, bevor überhaupt
über Kunst geredet werden kann. Für die Hauptsaison 2003
konnte Gerard Mortier an künstlerischen Mitteln 14 Millionen
Euro ausgeben – sein Nachfolger Jürgen Flimm wird dafür
gerade mal die Hälfte zur Verfügung haben. Im Zuge der
landesweiten Sparmaßnahmen wurde auch der Etat der RuhrTriennale
für die Saison 2005 bis 2007 von 42 auf 38 Millionen Euro gekürzt,
was sich nach Abzug der festen Kosten naturgemäß am stärksten
auf den künstlerischen Etat durchschlägt. Dennoch, Flimm
kann auf einem guten Fundament bauen. Rund 180.000 Besucher haben
die Hauptsaison 2003 erlebt, damit ist die Auslastung von 73 Prozent
im Jahr 2002 auf 86 Prozent gestiegen. In der Presse ist die anfängliche
Reserve einem differenzierten Meinungsbild und viel Zustimmung gewichen,
international findet das Festival von „Le Monde“ bis
„New York Times“ große Resonanz und hat sich aus
dieser Perspektive in der Liga von Bayreuth und Salzburg platziert.
Wer nun letztlich die Triennale besucht, ist schwer zu sagen. Man
sieht viele Autokennzeichen aus Aachen, Bonn, Köln und Münster
und jenseits der Landesgrenzen; man hört viel fremden Zungenschlag
im Publikum: Holländisch, französisch und englisch. Vergangene
Saison bedauerte Mortier, dass in Bochum „Zehntausende zur
benachbarten Zierfischschau und der Erotikmesse“ gepilgert
seien statt zu ihm. Den viel beschworenen Stahlarbeiter in die Hallen
zurückzuholen, wird trotz der guten Zahlen noch ein Stück
Arbeit sein. Zumindest scheint die Furcht vor Erosion beim gewachsenen
Theaterangebot der Region unbegründet. Bei den Pressestellen
der Theater in Bochum, Gelsenkirchen und Essen fühlt man sich
in der Publikumsgunst nicht beeinträchtigt und betrachtet die
RuhrTriennale eher als Ergänzung denn als Konkurrenz; selbst
etwa die spektakuläre „Zauberflöte“ der katalanischen
Regie-Clique La Fura dels Baus mit zwölf ausverkauften Vorstellungen
kommt der Essener Inszenierung von Ezio Toffolutti kaum in die Quere.
Regionale Identität
Viel wäre hier noch mit gleichem Recht zu nennen: Die einzigartige
Konzertreihe „Century of Songs“, die internationale
Singer-Songwriter zusammenführte; die stilbildende Tanz- und
Musik-Produktion „Wolf“ von Alain Platel und Sylvain
Cambreling auf Musik von Mozart; die Konzertreihen; die viel beachteten
Fernsehübertragungen oder das Schauspielprogramm. Nicht alles
ist gelungen, kann auch nicht, wo experimentiert und gesucht wird.
An erster Stelle steht jedoch, dass es Gerard Mortier und seinem
Team gelungen ist, inhaltlich Neues und Zukunftweisendes zu schaffen
und dem Festival und damit auch mittelbar der Region eine Identität
zu verleihen.
Johannes
Hirschler
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