Die Kunst des Chorklangs
Chordirigenten-Forum des Bayerischen Rundfunks · Von Roland
Bisswurm
Friedbert Grimm war ein engagierter Deutschlehrer, dessen ganze
Passion der Schulchor war. Die umtriebigen Bengel pflegte er zur
Strafe an den Ohren in die Chorproben zu zerren. Nachsitzen hieß
das damals. Dann kam Gotthilf Fischer mit barocker Haartracht und
einem unverschämt betörenden Lächeln. Er lud die
deutschen Massen zum Singen ein, im Chor: „Kein schöner
Land in dieser Zeit...“ Fischer fuchtelte dabei herzzerreißend
und dirigierte die Stanzen Friedrich Silchers im agogischen Gleichtakt
seiner Hände.
„Man erwartet von einem Chordirigenten, dass er genauso sauber
schlägt, als würde er ein Orchester dirigieren –
es sind Stimmen, gewiss, und genau dies macht den Unterschied: Es
ist eine Ansammlung ganz individueller Stimmen und Timbres, und
die Aufgabe eines Dirigenten ist es, ein möglichst homogenes
Klangbild zu schaffen.“ Sagt Michael Gläser, seit 1990
Dirigent des Chors des Bayerischen Rundfunks, der zu den Besten
in der Republik gezählt wird. Leonard Bernstein soll fast schon
jubilierend ausgerufen haben, er brauche nur den kleinen Finger
zu bewegen und schon erklinge eine wundervolle, ja nachgerade kosmische
Harmonie.
Kein Zufall
„Die erste Voraussetzung ist, dass die Leute sich mögen
und etwas miteinander anfangen können. Dann respektieren sie
sich, hören aufeinander, gehen aufeinander zu und ein“,
führt Gläser weiter aus, der den bemerkenswerten Rundfunkchor
nun seit 1990 leitet, „ich habe das Gefühl, dass sie
mich auch ganz gern mögen und, so können wir sehr konstruktiv
zusammenarbeiten.“
Folgerichtig rief Gläser nach langen Vorarbeiten nun endlich
sein langersehntes „Chordirigentenforum“ ins Leben,
zu dem er junge, ehrgeizige Chordirigenten eingeladen hatte. Gläser
kokettiert, wenn er betont, dies sei kein Wettbewerb im konventionellen
Sinne. Aus immerhin mehr als fünfzig Bewerbungen wurden elf
Aspiranten zum Probedirigat eingeladen, sechs davon blieben schließlich
als aktive Teilnehmer übrig, fünf verblieben als „Gasthörer“
Hohe Konzentration
Tobias Bromann gehört zu den Auserwählten. Er arbeitet
als Kantor am Berliner Dom und hat mit der G- Dur Messe von Johann
Sebastian Bach quasi ein Heimspiel: Das „Gloria“ kommt
mit der nötigen pastoralen Strenge, wiewohl der Chor des Bayerischen
Rundfunks auch mal dionysische Vokalisen feiert. Brommann ist ernst
und konzentriert, aber er erklärt quasi, erfindet den Protestantismus
neu, als gelte ihm Protestantismus als Protest gegen die umwerfend
klingende Opulenz dieses faszinierenden Klangkörpers.
Michael Gläser wird im anschließenden Plenum darauf
hinweisen, dass bei aller Strenge und Disziplin im Taktschlag, im
Gleichschlag die Intonation, eben der Gleichklang, das Wesentliche
sei: Nicht also der Gleichschritt, sondern der Gleichklang, ist
die Essenz eines geglückten Dirigats.
Robert Blank aus München,31, arbeitet an der Psalmensinfonie
von Igor Strawinski. Blank sagt vor einem Durchgang durch eine Partie
präzis an, was zu proben ist: Die einzelnen Sänger machen
eifrig Notizen.
Dann prüft er wie ein getreuer Korrepititor Note für
Note und gibt sich erst dann zufrieden, wenn Intonation, Vokalisation,
und Phonetik gleichermaßen im Einklang sind.
Michael Gläser moniert Unsauberkeiten beim T oder bei einer
ST- Lautung am Schluss eines Satzes. Blank reagiert sofort und mit
ihm der gesamte Chorkorpus. Dirigieren ist anstrengend, es ist,
als stemme der Dirigent ein schweres Gewicht, und doch – wenn
es klingt, dann geht alles federleicht.
Plötzlich klingt es
Im anschließenden Plenum sind alle erleichtert, zufrieden
und haben etwas gelernt. Die sechs aktiven Teilnehmer werden ein
ums andere Mal während dieser intensiven Arbeitsphase verstrickt
in die Strudel und damit in die Mühen, einen Klang aufzustellen.
Oder es geht ihnen wie Raimund Wippermann aus Essen bei Edlunds
„Gloria“: Plötzlich geschieht der Klang und keiner
der Beteiligten weiß so recht, wie und weshalb, plötzlich
klingt es und alle sind begeistert. Dann sind sich alle einig: Das
ist es, warum wir singen. Viel wird geredet während dieser
Woche – debattiert, werden Einverständnisse geklärt,
vielleicht Freundschaften geschlossen.
Kunst entsteht, „wenn ein Gespräch wir sind und hören
können voneinander“. Hölderlin, der dies geschrieben
hat, wäre gewiss ein interessanter Dirigent gewesen. Dass nach
diesem fulminanten Introitus weitere Chordirigentenforen folgen
werden, ist evident.
Roland
Bisswurm
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