|
Manchmal ist der alte Goethe tröstlich, hatte er doch
schon 1774 in seinem im „Wandsbecker Bothen“ veröffentlichten
Gedicht „Der unverschämte Gast“ ganz ohne Folgen
gefordert: „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent.“
Bertolt Brecht war da viel milder, als er 1952 anlässlich der
„Urfaust“-Aufführung im Berliner Ensemble anmerkte:
„Unsere Publikumsschulmeister fühlen sich unterschätzt,
wenn man ihnen erlaubt, sich zu amüsieren.“
Reinhard J. Brembecks Bekenntnis einer gequälten Rezensentenseele,
niedergeschrieben in der „Süddeutschen Zeitung“
vom 22. Oktober 2003, ist der Anlass zur zitierenden Kritiker-Schmähung.
In einer ausführlichen Vorbemerkung zu seiner Rezension von
Glucks „Orphée et Eurydice“ in der Bayerischen
Staatsoper beklagt er sein beruflich bedingtes Missgeschick, sich
offenbar zu Tode zu langweilen, wenn er auf der Bühne „die
ewig gleichen Geschichten“ immer wieder auf’s Neue über
sich ergehen lassen muss. Doch statt daraus die Konsequenz zu ziehen,
seinen Beruf zu wechseln, oder daran zu denken, dass nicht alle
Theaterbesucher Kritiker sind, dass viele Theaterbesucher die alten
Geschichten zum ersten Male in der Vorstellung erzählt bekommen,
oder dass sie aus Liebe zu den alten Geschichten sie sich zum zweiten,
dritten, vierten Male erzählen lassen, oder dass sie die alten
Geschichten sich auch einmal von anderen Sängern, Dirigenten
erzählen lassen wollen – nein, Reinhard J. Brembeck verallgemeinert
sein professionelles Leiden und fordert den „Kick“ auf
der Bühne für Alle, nur auf dass er nicht einschlafe.
Eine Inszenierung taugt nur dann etwas, wenn sie dem Kritiker eine
„Hallo Wach“-Injektion verabreicht.
Das liest sich denn so – und es verdient, langsam
gelesen zu werden: „Ein Fluch lastet auf dem Theater. Der
Fluch, die ewig gleichen Geschichten immer wieder zu erzählen.
Immer wieder wird die treu naive Desdemona von ihrem heroisch doofen
Otheollo erwürgt, immer wieder finden sich Tristan und Isolde
nur in der Musik und nicht im Bett.“ (Ein Tipp des Kritikers
für die nächste Tristan-Inszenierung?) „Welch merkwürdiges
Phänomen: dass der Mensch sich an großer Musik sehr viel
langsamer abhört, als er der Erzählungen müde wird.“
(Gibt es im Tristan keine große Musik?) „Schuberts ‚Spinnrad-Gretchen‘
vermag selbst beim achtzigsten Mal zu bannen, aber Geschichten erschöpfen
sich schneller, besonders auf dem Theater. Sie brauchen die Erneuerung,
die Mode, den Kick, den bisher übersehenen Aspekt, um frisch
wirken zu können, um dem Zuschauer“ (gemeint ist natürlich
der Kritiker, der alles schon kennt), um also dem Zuschauer „die
Illusion zu geben, sie erstmals zu hören...“ (weil er
andernfalls Seit‘ an Seit‘ mit Brembeck einschläft).
Wenn Brembeck dann noch dialektisch arg kobolzend unterstellt,
„weiten Teilen der Bevölkerung dürfte“ die
Geschichte von Orpheus und Eurydike „noch heute geläufig
sein“, weil sie „zu jenen Relikten der längst in
den Hades abgewanderten Bildung“ gehöre, „durch
die das deutsche Bildungssystem“ die Bevölkerung „so
nachhaltig geschädigt“ habe, dann heißt das im
Klartext: Da die bildungsgeschädigten Theaterbesucher gleich
mir, dem Kritiker, die Orpheus-Geschichte bis zur Ermüdung
kennen, darf sie auf der Bühne nur mit erneuerndem modischen
Kick und unter Herauskitzeln bisher übersehener Aspekte erzählt,
das heißt inszeniert werden.
Was lehrt uns das? Inszenierungen müssen gekickt werden,
weil der Kritiker sonst dem Fluch des Theaters erliegt und einschläft
(und gar nicht schreibt oder verreißt). Kritiker interessiert
nur der Kick, und der umso mehr, als er Anlass zu kulturphilosophischen
Betrachtungen und zu Auseinandersetzungen mit den bisher übersehenen
(oder gar nicht vorhandenen?) neuen Aspekten gibt. Da bleibt wenig
Raum, dem ratsuchenden Leser der Kritik behilflich zu sein oder
gar die künstlerischen Leistungen zu beschreiben und zu bewerten.
Und die Regisseure müssen kicken, weil sie der Kritiker sonst
nicht bemerkt (siehe oben: weil er nämlich schläft).
Ist womöglich der Kick-geile Kritiker der auf dem Theater lastende
Fluch?
Stefan
Meuschel
|