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Zwischen Kunst und Pädagogik
Symposium zu Perspektiven der Gesangskunst · Von Andreas
Hauff
„Dies Füßchen so zierlich und klein, ah“
– wer kennt es nicht, das Couplet der Adele aus der „Fledermaus“,
affektiert, mit großer Stimme und nahezu unverständlich
aus geläufiger Sopranistinnen-Kehle gedonnert – eben
nicht als keckes Liedchen einer pfiffigen Kammerzofe, sondern als
(wohl eher unfreiwillige) Karikatur einer großen Dame?
So etwas hört man von gestandenen Sängerinnen. Ist es
ein Wunder, dass eine Gesangsstudentin dieses Vorbild vor etwa 100
Zuhörern im Hörsaal der Mainzer Uniklinik reproduziert?
Erstaunlich ist hingegen, was dann passiert: Oren Brown, Nestor
der US-amerikanischen Gesangspädagogik, beginnt mit der jungen
Frau zu arbeiten. Er spricht über die Entspannung der Außenmuskulatur,
lässt die Studentin Kopf und Schultern lockern und dann den
Anfang des Couplets („Mein Herr Marquis“) sprechen –
geleiert und nahezu spannungslos. Die Studentin tut sich schwer.
„It’s hard to not do a lot”, kommentiert der erfahrene
Pädagoge verständnisvoll und lässt den Text stumm
sprechen, danach auch die Melodie ohne Worte herunterleiern. Die
Überspannung weicht. Jetzt, so Brown, komme es darauf an, Melodie
und Artikulation zu kombinieren – „to do two separate
things at the same time“. Auf einmal ist nicht nur die Sängerin
entkrampft, sondern auch der musikalische Ausdruck, ja die ganze
Bühnengestalt wirkt stimmig.
Zurückgeblieben
Besser als auf diese Weise hätte sich die Intention des Symposiums
kaum veranschaulichen lassen, zu dem der Fachbereich Musik der Johannes-Gutenberg-Universität
und die Lohmann-Stiftung Wiesbaden gemeinsam eingeladen hatten.
„Neue Perspektiven der Gesangskunst“ lautete der Titel
der Veranstaltung; dass nun gerade ein 94-jähriger Nordamerikaner
als Repräsentant jahrzehntelanger und erfolgreicher Verknüpfung
von Kunst, Wissenschaft und Pädagogik geladen wurde, deutet
daraufhin, dass die zu eröffnenden Perspektiven im Prinzip
so neu nicht sind. Die Mainzer Gesangsdozentin Julia Bauer, zuständig
für Konzeption und Organisation der Veranstaltung, hält
die deutsche Gesangspädagogik denn auch im internationalen
Vergleich für zurückgeblieben. Dass Absolventen deutscher
Gesangsklassen inzwischen selbst mit Bestnoten Schwierigkeiten hätten,
im internationalen Vergleich zu bestehen, deute auf einen erheblichen
Reformbedarf in der Ausbildung hin.
Julia Bauer stellte bemerkenswerte Ergebnisse einer Umfrage im Bundesverband
deutscher Gesangspädagogen vor. Demnach zählt die große
Mehrheit der Gesangslehrer und -lehrerinnen zwar die Vertrautheit
mit verschiedenen Methoden und die umfassende Kenntnis der Fachliteratur
zu den Eigenschaften eines guten Gesangspädagogen. Bei stimmlichen
Problemen eines Schülers belässt man es aber weitgehend
beim Rückgriff auf bewährte Methoden, insbesondere das
Vor- und Nachsingen und das Ausprobieren von Übungen. Der Blick
in die Fachliteratur oder das beratende Gespräch mit Kollegen
kommt hingegen in der Regel kaum vor. Und auch die Fähigkeit
zur Vermittlung verschiedener Gesangstechniken (über deren
bloße Kenntnis hinaus) wird kaum für wichtig gehalten.
Weitere Defizite zeigten sich im Verlauf der zwölf Vorträge
und zwei Podiumsdiskussionen. Deutsche Gesangslehrer- und -lehrerinnen,
so kann man den inhaltlichen Tenor resümieren, reflektieren
insgesamt zu wenig über den pädagogischen Anteil ihrer
Tätigkeit, und sie schauen nur geringfügig über den
Tellerrand ihrer eigenen Disziplin.
Nachholbedarf
Unter den Referenten fanden sich neben Sängern und Gesangspädagogen
auch Stimmwissenschaftler, Fachärzte und Logopäden, Musikwissenschaftler
und Praktiker des Musikbetriebs. Die Beiträge aus medizinischer,
naturwissenschaftlicher und empirischer Sicht bestätigten teilweise
sängerische Alltagserfahrungen, teils lenkten sie den Blick
auf bisher vernachlässigte Zusammenhänge. Dass Sänger
und Logopäden etwa Sängerstimmen durchaus unterschiedlich
beschreiben und bewerten, deutet auf einen erheblichen Nachholbedarf
an Vergewisserung und Verständigung über stimmliche Prozesse
und Vorstellung hin. Dem schwedischen Stimmforscher Johan Sundberg
kann man nur darin beipflichten, dass die visuelle Anschauung auf
dem Papier oder dem Bildschirm stimmliche Phänomene anschaulicher
und besser begreifbar macht. Dass physiologische Untersuchungen
gewichtige Indizien für die Stimmgattung zu Tage fördern
und dass es in Berlin und Hamburg bereits geglückte Modelle
der Zusammenarbeit zwischen Sängern und Phoniatern gegeben
hat, gehört mit Sicherheit auch zu den Erkenntnisgewinnen der
Tagung.
Rock und Pop einbinden
Claus Ocker von der Lohmann Stiftung zeigte sich in seinem Schlusswort
hoch zufrieden mit Verlauf und Ergebnissen der Tagung. Ocker hatte
allerdings vorher im Anschluss an den Vortrag von Jürgen Kesting
über die Wandlungen des Stimmideals in den letzten 100 Jahren
eine Frage gestellt, die im Lauf der Veranstaltung nicht beantwortet
wurde. Dazu, wie mit den Stimmidealen aus Pop, Rockmusik und HipHop
umzugehen sei, die den musikalischen Geschmack der aufwachsenden
Generation ganz selbstverständlich prägen, sind Erfahrungsaustausch
und Konzepte noch dringend erforderlich. Dass es genügend engagierte
und kompetente Gesangspädagogen gibt, die den Gesprächsbedarf
über die Probleme und Perspektiven ihrer Tätigkeit sehen
und auch die notwendige Gesprächsbereitschaft mitbringen, ist
vielleicht das wichtigste Ergebnis der Mainzer Veranstaltung.
Andreas
Hauff
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