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Aufatmen in den Chefetagen
Der ARD-Wettbewerb in München · Von Oliver Wazola
Aus den Intendantenbüros deutscher Opernhäuser lassen
sich seltsame Geräusche vernehmen. Ein tiefes Aufatmen wird
wahrgenommen, wo man sich einst die Haare raufte. Manch einer will
sogar Steine gehört haben, die mit großem Krach von den
Herzen der Theaterleiter fielen: Die unsäglich oft propagierte
Krise des Gesangs ist überstanden, der Nachwuchs gesichert,
die jungen Sänger und Sängerinnen sind musikalischer denn
je.
So oder so ähnlich könnte das Szenario aussehen, wenn
die Ergebnisse des diesjährigen ARD-Musikwettbewerbs sich ihren
Weg in die Kulturtempel der Republik bahnen: Von den sieben Finalisten
der Kategorie Gesang wurde jeder mit einem Preis ausgezeichnet,
zwei sogar mit einem ersten. Erstaunlich, denn traditionell wird
München jedes Jahr im September zum Schauplatz kleiner Tragödien:
Beim ARD-Musikwettbewerb trennt sich in vier jährlich wechselnden
Kategorien die Spreu vom musikalischen Weizen. Solche Ausscheidungen
sind für junge Musiker immer eine Herausforderung fürs
Nervensystem, München jedoch ist ein besonders hartes Pflaster:
Zeitgenössische Musik zählt zum Pflichtprogramm –
Mauricio Kagel, Peteris Vasks, Thomas Larcher und Katia Tchemberdji
lieferten diesmal Auftragswerke –, erste Preise werden in
den seltensten Fällen vergeben. Doch jede Regel kennt ihre
Ausnahmen.
Viele Auszeichnungen
Natürlich platzten auch heuer wieder Karriereträume
wie die sprichwörtliche Seifenblase: kein Glamour, keine Plattenverträge,
kein Jet-Set durchs musikalische Fegefeuer der Eitelkeiten. Dabeisein
war eben doch nicht alles. Gerade 17 junge Musiker erreichten die
Endausscheidung. Doch, und das ist das wirklich Erstaunliche an
den diesjährigen Finali: Der Daumen der Juroren ging heuer
so oft nach oben wie selten zuvor. Insgesamt wurden 14 Preise vergeben
– davon in den Kategorien Trompete und Kontrabass jeweils
ein erster, im Fach Gesang sogar zwei erste Preise. Nur die Klarinettisten
mussten sich zur Gänze mit Zweit- und Drittplatzierungen zufrieden
geben. Dafür übertraf die Gewinnausschüttung in der
Kategorie Gesang, die traditionell mit Argus-Augen verfolgt wird,
alle Erwatungen: Sämtliche sieben Finalisten wurden ausgezeichnet.
„Wer das technische Rüstzeug nicht mitbringt, braucht
gar nicht anzutreten“, erklärte Siegmund Nimsgern auf
die Frage, ob Technik oder Musikalität für die Juroren
im Fach Gesang ausschlaggebender sei. Auch Thomas Quasthoff sagte
der Süddeutschen Zei-tung: „Nur schön singen reicht
mir nicht.“ Es tut gut, das aus so berufenem Munde zu hören:
Beide Sänger konnten die renommierte Auszeichnung selbst erkämpfen
– Nimsgern 1966, Quasthoff 1988 –, beide saßen
diesmal unter den Juroren. Konnten sie sich in den Jurysitzungen
gegen ihre Kollegen Klaus Schultz, Dame Gwyneth Jones, Francisco
Araiza, Helmut Deutsch, Daphne Evangelatos, Roberto Saccà
und Edith Wiens nicht durchsetzen? Mit Marina Prudenskaja wurde
einer dramatischen Mezzostimme mit Koloratur der erste Preis verliehen,
die Arien von Rossini und Verdi technisch sauber, doch neutral im
Ausdruck und mit vokalen Kraftakten realisierte, die einen um ihre
Stimmbänder fürchten ließen. Erst der Blick ins
Programm verriet, dass sie aus Russland stammt. Wesentlich stärker
war die typisch russische, gutturale Tongebung bei Julia Sukmanova
zu hören. Ihre nicht ganz idiomatische Textgestaltung in Arien
von Weber und Verdi dürfte für die Jury stärker ins
Gewicht gefallen sein als der individuelle Stimm-Klang – sie
musste sich mit einem dritten Platz begnügen.
Voluminöse Töne und freundliche, etwas glatte Professionalität
wurden auch bei ihren männlichen Kollegen belohnt. Zeichen
dafür, dass der musikalische Nachwuchs den Gesetzen zunehmender
Globalisierung unterworfen ist? Nimmt man die Länderstatistik
genauer ins Auge, lassen sich die Belege hierfür schnell zitieren:
Aus den klassischen Gesangschulen Europas kamen die wenigsten Vertreter.
Unter den 89 Sängern, die nach München eingeladen wurden,
stammten zwei aus Italien, aus Frankreich und Spanien nicht ein
einziger.
Immerhin: 20 Prozent kamen aus Deutschland, mit 35 Prozent war
Korea am stärksten vertreten. Tatsächlich erreichten mit
Gérard Kim und Günter Papendell Vertreter beider Länder
das Finale. Nun könnte man diesen Umstand schnell mit dem Gesetz
der Wahrscheinlichkeit erklären. Aber das wäre zynisch
und unfair gegenüber den engagierten Künstlern. Zumal
der erste Preis an Gérard Kim ging, einem Verdi-Bariton,
der auf der Bühne Charme und Charisma verströmte –,
auch wenn ihm voll ausgesungene Noten noch wichtiger waren als vokale
und stilistische Differenzierung.
Persönlichkeit zählt
Doch halt, Schluss mit der Beckmesserei! Als der Kanadier Tyler
Duncan Guglielmos „Rivolgete a lui lo squardo“ mit sensibler
Tongebung und der für Mozart so unabdingbaren Mischung aus
Einfachheit und Euphorie sang, verstummte selbst das Grollen leidenschaftlicher
Melomanen, weil klar wurde: Musik öffnet und reflektiert menschliche
Dimensionen. Sie ist nicht primär eine Möglichkeit zu
zeigen, wie makellos man schon in jungen Jahren die schwierigsten
Stücke bewältigt. Nicht alle Juroren ließen sich
davon erweichen, Duncan wurde „nur“ Dritter. Schade,
dass er nicht hörte, was Siegmund Nimsgern mir verriet: „Letztlich
kommt es auf die Persönlichkeit an, ein erster Preis zählt
wenig.“
Oliver
Wazola
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