|
Immer wieder: Der Ring
Weshalb Richard Wagners Tetralogie so oft inszeniert und gespielt wird Von Gerhard Rohde
Richard Wagners Ring des Nibelungen beherrscht derzeit das Operngespräch. In München,
Nürnberg, Dresden und Zürich entstehen neue zyklische Darstellungen. Chemnitz und Münster legten
sich die Tetralogie für ihre Spielpläne zu. Stuttgart bot gleich vier Regisseure für die vier
Ring-Teile auf, und in Bayreuth wird 2006 der dänische Filmregisseur Lars von Trier den nächsten
Ring inszenieren.
Die Kreisform des Rings übt eine geheimnisvolle Wirkung auf die Menschheit aus: Anfang und Ende fallen
im Kreis des Rings in eins. Wo ist der Anfang, wo das Ende? Niemand weiß es, keiner vermag es zu bestimmen.
Magie ist stets mit im Spiel. Bei feierlichen Anlässen bilden Menschen einen Kreis um ein Symbol, im Kreis
wird beraten, verhandelt, Recht gesprochen. Oft bilden große Steine den Kreis. Um ferne Planeten bilden
sich Lichtringe aus feinstem Staub. Überall: Lauter geheimnisvolle Bedeutungen, die sich zu Ringen schließen.
In unseren Tagen degenerierten Ring-Symbole oft auch zu Firmenzeichen: Als sich vor dem Krieg vier deutsche
Autofirmen zusammenschlossen, flochten sie vier Ringe als Firmensignet ineinander. Das Zeichen lebt bis heute,
obwohl es nicht mehr vier Autonamen umschließt. Doch die Magie wirkt weiter. Die modernen Olympischen
Spiele bedienten sich sogar mit fünf Ringen: Für jeden Erdteil einer, in zwei Reihen übereinander,
aber auch schön mit- einander verknüpft. Aus der Kunst fällt einem die Ring-Parabel
ein, die der Dichter Lessing seinem Nathan in den Mund legt. Der Jude Nathan löst sich mit dieser Parabel
geschickt aus einer Fangfrage des Sultan Saladin, eines Muselmanen, nach dem wahren Glauben. Vielleicht
sollte man Lessings Ring-Parabel in entsprechend vielen Übersetzungen drucken lassen und, statt gelber
Futterpäckchen, über der Welt abwerfen.
Mit dem Finger-Ring nähern wir uns unserem Thema: Wagners Ring des Nibelungen. In Altertum
und Mittelalter signalisierten Finger-Ringe Herrschaft, designierte Amtsgewalt, Macht und Würde. Kaiser
und Könige erhielten Krönungs-Ringe, Papst und Bischöfe trugen Pontifikal-Ringe, und auch der
Ehering, der früher zunächst nur der Frau aufgesteckt wurde, kann auf eine lange, mit schöner
Symbolik verzierte Geschichte zurückblicken.
Bei einer so reichen und vieldeutigen Ring-Historie konnte es nicht ausbleiben, dass eines Tages
ein Ring zum Hauptdarsteller einer Oper wurde. Was heißt hierbei Oper? Zum Weltendrama in
vier Abteilungen, in ringförmiger Parabelform, mit einem Anfang im feuchten Element, aus dem wir angeblich
alle stammen, und einem Ende im Flammenmeer, von wo aus es stracks mit dem von Naturwesen geborgenen Ring wieder
ins Wasser zurückgeht, damit die Geschichte erneut von vorn beginnen kann.
Richard Wagner hat in seinem Ring des Nibelungen die Geschichte wird in jedem Opernführer
vor- und nacherzählt den Ring, anders als Lessing, mit einem wilden Fluch beladen. Unschwer folgte
aus dieser Verfluchung sowie aus dem Umstand, dass der Hersteller des Ringes dafür auch noch der Liebe
entsagte, eine Art konzentrierter Menschheitsgeschichte: Liebe und Hass, Geburt und Tod, Mord und Totschlag,
Macht- und Geldgier, hohe Herrschaften, niedere Sklaven, braver Mittelstand so wie sich das Leben bis
heute darstellt. Dabei besitzt das Theater, auf dem alles symbolhaft sich ereignet, die Fähigkeit, den
magischen Reif zwischenzeit-lich, für die Dauer einer Aufführungsserie, durchschneiden zu können
und in der Länge auszulegen: Der gestreckte Ring wäre dann die Menschheitsgeschichte insgesamt, und
je nachdem, ob man den Ring-(Mess)Stab weit zurückschiebt in alte Kulissen oder heftig nach
vorn nach Nazideutschland, Vietnam, Afghanistan, Naher Osten irgendwelche Übereinstimmungen
mit der historischen, politischen, gesell- schaftlichen Realität lassen sich immer finden, argumentativ
plausibel vortragen und bildreich darstellen.
Die Frage nach dem Mythos, die in diesem Zusammenhang gern gestellt wird, beantwortet sich nicht so leicht:
Ist Wagners Ring ein Mythos? Oder ist es nur der Versuch, einen Mythos zu beschwören, zu stiften?
Ein Remake sozusagen. Anderer-seits gibt es in der Moderne auch den Begriff einer Mythisierung: Personen, Handlungen,
große Ereignisse, Ideen verschmelzen und verklären sich zu einem Panorama von hohem Symbolcharakter.
Auf den Ring bezogen könnte das bedeuten: Da seine Geschichtlichkeit nicht an eine zeitbestimmte
Kostümierung gebunden ist, können äußerst unterschiedliche, weit auseinanderliegende Zeiten,
Personen und Ereignisse in seine Handlungsstruktur, in seine Thematik integriert werden.
Diese Weitgespanntheit, diese Offenheit der Dramaturgie des Ringes gestattet es den nachschaffenden
Theaterkünstlern, in die Vorlage immer wieder unerwartete, neue, zwingende, auch weniger zwingende Perspektiven
hineinzuprojizieren. Und Wagners Ring-Musik besitzt in ihrer inneren Weite, in der Fülle und
Variabilität des musikalischen Ausdrucks, in der Stringenz und Gewalt der symphonischen Sprache, in der
formalen Disziplin einen ästhetischen Radius von unermesslichen Dimensionen, dass sie die unterschiedlichsten
szenischen Imaginationen mühelos in sich aufnimmt, diese Imaginationen auch dort noch stützt und überwölbt,
wo sich konzeptionelle Perspektiven womöglich als allzu verkürzt erweisen.
Es war und ist es bis heute der Geniestreich von Patrice Chéreau, mit seiner Bayreuther
Ring-Inszenierung von 1976/1980, die Figuren und ihre Handlungen ganz nah an uns heranzuholen. Nicht
im Sinne einer brandaktuellen Kostümierung, vielmehr durch eine Aufwertung der Zeit, in der
der Ring entstand: des neunzehnten Jahrhunderts. In diesem Jahrhundert erreichten Industralisierung,
Technisierung, Machtballung in den Händen großer Figuren (Krupp) Dimensionen, die einem heute quasi
mythisch erscheinen mögen. Mythische Ausmaße allerdings gewannen zugleich die sozialen
Probleme und Spannungen, das Elend der Massen in den großen Städten, die Bindungslosigkeit des Einzelnen
in einer hemmungslosen Erwerbs-und Gewinnsozietät, der die moralischen Werte zunehmend abhanden kamen.
Die Spannung, die sich da aufbaute, entlud sich im Ersten Weltkrieg, der Götterdämmerung,
in der eine alte Gesellschaftsordnung unterging. Danach kamen vor allem Nachbeben, die bis heute weiterzuwirken
scheinen. Bei Chéreau gewann das Katastrophische eine brennende, schmerzhafte Nähe, zugleich aber
zeigte er, dass das neunzehnte Jahrhundert in der Größe des historischen Entwurfs, in der Übergröße
seiner beherrschenden Individuen (Wotan) das Ende, den jähen Sturz in den Abgrund barg: Ein
Sturz von mythischen Dimensionen.
Chéreaus Darstellung besaß in den Ring-Deutungen von Joachim Herz (in Leipzig), Götz
Friedrich (London) oder Ulrich Melchinger (Kassel) markante Vorbereiter. Die Bedeutung von Chéreaus Ring
aber bestand in der Zusammensicht aller Tendenzen, in der analytischen Klarheit und Durchdringung, und das alles
bei gleichzeitiger theatralischer Vitalisierung von ungewohntem Ausmaß Kennzeichen einer Ring-Interpretation,
bei der die Musik unter Pierre Boulez als ebenbürtiger Partner mitsprach.
Man könnte pointiert sagen, dass sich Wagner mit der Gründung seiner Bayreuther Festspiele als erster
moderner und sofort perfekter Marketingchef für sein Werk etabliert hat: Bayreuth als Impulsgeber
auf eine aufsehenerregende Inszenierung auf dem Grünen Hügel reagiert der Chor der deutschen,
deutschsprachigen und sogar der ausländischen Opernbühnen mit eine Vielzahl neuer Ring-Inszenierungen.
Die Gegenwart hielt Einzug im Ring-Gehäuse. Bei Harry Kupfer (1988 in Bayreuth) degenerierte
die Götterschar zu einem Banditenhaufen, der unsere Umwelt zerstört ein Öko-Ring
sozusagen. Kupfers Ring will einem in der Rückschau doch zwingender, größer erscheinen
als zur Zeit seiner Hervorbringung. Der Schatten Chéreaus lag wohl noch zu stark auf den inszenierenden
Nachfolgern.
Man sah auch viel Firlefanz bei der Ring-Rezeption nach Chéreau. Als Solitär ragt
vielleicht nur der Frankfurter Ring der Ruth Berghaus, von Michael Gielen dirigiert, aus der Menge
heraus: Ruth Berghaus analysierte mit scharfem Blick das Innere der Figuren, ihre psychischen Dispositionen.
Dabei wurde deutlich, wie sehr sich die Ring-Protagonisten aus sich selbst heraus zerstören.
Ihr Streiten entsteht weniger aus einem Kampf mit einem Gegenüber, sondern aus sich selbst. Da war als
Seelenvivisektion mit höchster Genauigkeit vorgetragen: Ein notwendiger Gegenentwurf zu Chéreaus
Palimpsest-Forschung für das neunzehnte Jahrhundert.
Wenn im Augenblick an ungewöhnlich vielen Musiktheatern neue Ring-Inszenierungen entstehen
um nur die prominentesten zu nennen: Robert Wilson in Zürich, Willy Decker in Dresden, Herbert
Wernicke in München dann wirkt sicher die Neugier, die einst ein Chéreau, Kupfer, eine Ruth
Berghaus dem Ring-Monument entgegenbrachten, immer noch nach: Man möchte weiter forschen,
weitere Ansichten für das Werk gewinnen, vielleicht noch tiefer in die thematischen und motivischen Schichten
eindringen, textlich, szenisch, musikalisch der neue Stuttgarter Ring, inszeniert von vier
Regisseuren, dirigiert von Lothar Zagrosek, vervierfachte gleichsam die Perspektiven in einem Durchgang: ein
großkonzipiertes Experiment.
Die neue Neugier könnte aber auch evoziert worden sein durch die zunehmend sich verschärfende politische
und gesellschaftliche Welt-Lage: Der 11. September 2001 steht als Symbol nicht nur für einen barbarischen
Terror-und Zerstörungsakt, vielmehr als Wegmarke in eine denkbare Welt-Katastrophe, hervorgerufen durch
ökonomische Ungleichheit und Ungerechtigkeit, einen immer hemmungsloser agierenden Welt-Kapitalismus, wachsende
soziale Schieflagen, primitives Renditedenken, rücksichtlose Ausbeutung der Natur-Ressourcen und noch einiges
mehr.
Muss eine Ring-Inszenierung das alles ins Bild und vors Auge bringen? Sicher nicht plakativ, mit
direkten optischen Accessoires aus unseren Tagen bis hin zum zerstörten Panzer. Aber die Genauigkeit der
Figurenbeobachtung, die verdeckte Sprache verbogener Haltungen, verlogener Gesten, verräterischer
Bewegungen, präzis in Übereinstimmung mit der musikalischen Gestik, dem Ausdruck der Musik, müßte
in dem Ring-Personal etwas von den fortwirkenden psychischen Dispositionen aufscheinen lassen, aus
denen die Menschheitskatastrophen entstehen. Bei Chéreau entwickelte sich das aus Virtuosität, bei
der Berghaus aus fast brutaler Seelenzergliederung, bei Kupfer aus präziser Figurendarstellung.
Ob die gegenwärtige Ring-Olympiade an unseren Opernhäusern der Palimpsest-Forschung am
Ring neue Schichten anbieten kann, sollte fairerweise erst nach Beendigung der einzelnen Gesamtinszenierungen
resümiert werden. Christine Mielitz hat in Weimar mit ihrem Kraftakt, alle vier Teile in einer Woche zu
stemmen, einen bemerkenswerten Anfang gemacht. In München versucht Herbert Wernicke, seiner
zehn Jahre zurückliegenden Brüsseler Ring-Inszenierung durch einen neuen Ansatz erweiterte
Perspektiven abzugewinnen nach dem Rheingold lässt sich dazu noch nichts weiter sagen.
Robert Wilsons Zürcher Zeichen-und Gestensprache bewegt oft wundersam und hochästhetisch
die Figuren wohin? Die Frage mag zugleich als ein zwischenzeitliches Ende der Betrachtungen gelten.
Gerhard
Rohde
|