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Neuen Spielorten auf der Spur
Die Nürnberger Pocket Opera Company und ihr künstlerischer Leiter
Die Nürnberger Pocket Opera Company, Deutschlands ältestes freies Musiktheater, bewegt sich seit
über einem Vierteljahrhundert zwischen den Genres. Musiktheater als freies Unternehmertum was im
angelsächsischen Raum Normalität bedeutet, ist in Deutschland ein kulturpolitischer Seitenpfad. Ästhetisch
und organisatorisch war das schon zu Zeiten der Gründung der Pocket Opera ein Wagnis. Heute sind die Mittel
knapper, und die Situation für die freie Musiktheaterszene in der Stellung zwischen Stadt-, Landes- und
Staatstheatern ist eng. Kathrin Hauser-Schmolck sprach mit dem künstlerischen Leiter, Peter Beat Wyrsch.
Oper & Tanz: Peter Beat Wyrsch, Sie haben 1974 zusammen mit dem Dirigenten David Seaman die Pocket
Opera Company gegründet. Aus welcher Motivation heraus und mit welchem Ziel?
Peter Beat Wyrsch: Wir arbeiteten zu dieser Zeit beide am Opernhaus in Nürnberg; wir sind beide
im Opernhaus groß geworden und wollten etwas Eigenständiges machen. Mitte der 70er-Jahre die
68er-Bewegung war ja noch spürbar und man stürzte sich sehr auf Performance und solche Dinge
gab es im Schauspiel eine große Aufbruchstimmung. Im Musiktheater nicht, da war alles doch noch sehr verkrustet.
Uns störte das, wir wollten raus aus dem Muff der Opernhäuser. So war unser Ziel zuallererst einmal
das Sprengen von Gepflogenheiten und Traditionen.
O&T: Das Repertoire und die Aufführungsorte sind sehr ungewöhnlich. Welche ästhetischen
Vorstellungen verbergen sich dahinter?
Wyrsch: Es war eine musikalische Selbstbefreiung wie die Zeit damals natürlich auch ein bisschen
anarchistisch. Es entstand die Idee, Oper im Zirkuszelt aufzuführen oder im Nürnberger Kommunikationszentrum.
Oper für ein anderes, alternatives Publikum, das nicht in die Opernhäuser ging. Auch Oper als Parodie.
Wir machten eher unbekannte bürgerliche Oper, dann bekanntes Repertoire, also großbürgerliche
Oper, in Parodien. Und von Anfang an vergaben wir Kompositionsaufträge, um auch diese schwarz gekleidete
Ars-Nova-Ästhetik aufzubrechen, die Ästhetik einer hochintellektuellen kleinen zeitgenössischen
Künstlerschar, die ohnehin nie an das große Publikum herankam. Und nicht wollte; Erfolg zu haben
war verpönt. Das wollten wir ändern, suchten neue Spielorte und sagten uns: Gehen wir zum Publikum.
Holen wir es da ab, wo es steht. Und das wurde Programm. Einerseits. Andererseits wollten wir Architektur so
nehmen, wie sie sich darstellt, als Arbeitswelten, für die man Musik schreibt und durch die das Publikum
einen anderen Zugang zur Kunst findet. Der Ort schafft den Zugang. Und auch die Spielweise, die wir uns über
die Parodien erarbeitet hatten, verschaffte dem Publikum einen sehr direkten, handfesten Zugang zur Musik. Ohne
intellektuellen Touch. Unterhaltung und nicht nur Bildung. Das war damals sehr wichtig. Musik, auch zeitgenössische,
konnte erlebt werden.
O&T: Das ist lange her. Wie ist die Situation für die Pocket Opera heute?
Wyrsch: Die Grundstrukturen, über Architektur, über Spielorte Publikum zu finden und zu begeistern,
sind im Kern geblieben. Auch machen wir weiterhin traditionelles Repertoire und vergeben Kompositionsaufträge.
Es gibt freilich heute wieder eine Tendenz bei vielen zeitgenössischen Komponisten, mehr traditionell zu
schreiben. Umso wichtiger ist es, in Zusammenarbeit mit ihnen sparten- oder grenzüberschreitend Musiktheater
mit anderen Künsten oder mit anderen Denkweisen zu vernetzen. Es gibt wenige Ensembles, die das konsequent
tun, etwa das Ensemble Modern. Wir zum Beispiel machten ein Projekt mit Heiner Goebbels: Surrogate Cities.
Und wenn die Blutrünstigkeit der römischen Geschichte im ehemaligen Aufmarschgelände der Nationalsozialisten
in Nürnberg spielt, bekommt die Sache eine andere Dimension. Das ist dann nicht mehr Oper und nicht mehr
Konzert. So etwas kann man schaffen mit einer flexiblen Verbindung wie der Pocket Oper.
O&T: Eines Ihrer neuen Projekte heißt live from death row, mit Foto- und Videomaterial
aus amerikanischen Todestrakten; Sie arbeiten hier zusammen mit einer italienischen Menschenrechtsorganisation.
Wyrsch: Wir wollen Themen der Zeit aufgreifen, Themen, die die Menschen beschäftigen. Das Musiktheater
wird Teil der politischen Aktion.
O&T: Ein anderes Projekt wird in Sibirien stattfinden: Macbeth mit sibirischen Musikern.
Wyrsch: An diesen Projekten sehen Sie, was Pocket Oper für uns heißt. Es heißt nicht
zwingend, im kleinsten Raum Theater zu machen. Pocket Oper ist für uns ein Begriff von anderem, von flexiblem
Musiktheater. Im Kopf flexibel, in der Arbeitsweise flexibel oder von der Komposition her.
O&T: Wer ist Ihr Publikum, lässt sich das typisieren, phänomenologisch eingrenzen?
Wyrsch: Teils haben wir ein Stammpublikum, das neugierig auf neue, ungewöhnliche Spielorte ist;
teils haben wir Zuschauer, die das jeweilige Thema interessiert. Bei einem Projekt im Ausbesserungswerk der
Bundesbahn (in Nürnberg und Frankfurt) wurden sie mit historischen Waggons in das Werk gefahren, da kamen
auch Eisenbahnfreaks. Also, es setzt sich immer wieder neu zusammen.
O&T: Und wer sind Ihre Sänger? Fällt die Wahl da eher auf junge Solisten, die sozusagen
noch formbar sind? Und auch bezahlbar?
Wyrsch: Wir haben uns nie als Opernstudio mit Ausbildung verstanden. Wir haben nicht ausschließlich
junge Sänger. Am Anfang waren es meist ältere Sänger vom Opernhaus in Nürnberg. Ein wichtiges
Moment war die Frustration. Enttäuscht vom herkömmlichen Betrieb wollten sie Oper lustvoll betreiben
oder andere Rollen ausprobieren. Es ist interessant, dass gerade aus dem angelsächsischen Raum eine große
Bereitschaft da ist die Sänger waren dort ja durch die Struktur der Opernhäuser immer freischaffend.
O&T: Wie finanziert sich die Pocket Opera Company?
Wyrsch: Durchschnittlich sind rund 25 Prozent des Budgets der Pocket Opera Zuschüsse von der Stadt
Nürnberg, vom Bezirk Mittelfranken und von der Bayerischen Landesregierung. Rund 75 Prozent erspielen wir
durch Kooperationen mit Festivals oder mit anderen Theatern, durch Einnahmen oder auch durch Sponsoring. Sponsoring
macht im Schnitt aller Projekte rund 20 Prozent aus. Im Einzelfall hängen die Zahlen natürlich immer
vom Thema ab.
O&T: Die Begrifflichkeiten im Bereich der freien Opernszene sind sehr verschieden und reichen von
Off-Theater über freie Musiktheaterszene, freie Opernbühne bis
hin zum Privattheater. Wo sieht sich hier die Pocket Opera Company?
Wyrsch: An den Begriffen sieht man, wie schwammig das ist. Wir wissen nicht, wo wir uns dazuzählen
sollen oder wollen. Es ist viel eher ein Nicht-Wollen. Freilich sagten wir am Anfang, damit wir auch Freiräume
hatten: wir gehören zur Off-Szene. Aber in den soziokulturellen Bereich mit seiner Selbstverwirklichung
unter dem Klischee jeder kann mal, wenn er will, passten wir mit unseren hochprofessionellen Leuten
nicht hinein. Heute sehen wir uns mit der Pocket Opera Company als freie Unternehmer, wie das zum Beispiel in
Großbritannien im Opern-, Orchester- und Theaterbereich üblich ist.
O&T: Wie positioniert sich die Pocket Opera Company im Markt der freien Opernbühnen
neben der Berliner Kammeroper, der Neuköllner Oper, der Neuen Opern- und Theaterbühne Berlin oder
der Opera Factory in London ...?
Wyrsch: ... oder der Anden Opera Kopenhagen, dem Ictus Ensemble Brüssel, Walpurgis oder Transparant
in Antwerpen oder dem Theater Kontrapunkt in Düsseldorf? Der Markt ist klein, wirklich vergleichbare professionelle
Gruppen gibt es wenige.
O&T: Wie schätzen Sie die Situation für die freie Musiktheaterszene in Deutschland in
der Stellung zwischen Stadttheatern, Landesbühnen und Staatsopern ein?
Wyrsch: Schlecht. Eine Zeit lang hatte ich gehofft, dass es zu einem freien Unternehmertum kommt, dass
man die Opernhäuser mehrheitlich aufgeben und sich auf wenige konzentrieren wird. Man muss aber feststellen,
dass die Städte eine ungeheure Liebe zu ihren eigenen Theatern hegen und nicht bereit sind, neue Formen
zuzulassen. Und jetzt, wo immer weniger Geld vorhanden ist, konzentrieren sich die Kommunen zunehmend aufs Kerngeschäft.
Wir hatten vor einigen Jahren ein interessantes Modell mit dem Fürther Theater und mit Ludwigshafen. Offenbachs
Hoffmanns Erzählungen und Mozarts Don Giovanni als Pocket Oper. Wir haben am Schluss
die Produktion freigekauft, damit wir auf Tournee gehen konnten. Fürth und Ludwigshafen hatten sozusagen
eine Rückfinanzierung durch uns erfahren, und wir hatten die Produktionssicherheit und auch Sicherheit
über eine gewisse Anzahl von Aufführungen. Leider ist es ein einmaliges Projekt geblieben. Ein anderer
Versuch war, verschiedene Theater für einen bestimmten Produktionsbetrag zu verpflichten bei Übernahme
von bis zu drei Aufführungen. Die Lage ist sehr schwierig, aber ich denke, als Produzent von freien Musiktheaterprojekten
ist man für den Markt dann interessant, wenn die Projekte an den gängigen Programmen der Opernhäuser
vorbeigehen.
O&T: Darin liegt die einzige Chance für eine freie Musiktheaterszene?
Wyrsch: Ja. Die Chance ist, ungewöhnliche Projekte anzubieten.
Peter B. Wyrsch,
Mitbegründer und künstlerischer Leiter der Pocket Opera Company, arbeitete als Assistent von Hans-Peter
Lehmann und in Salzburg bei Herbert von Karajan. Als Opernregisseur war er unter anderem an der Niedersächsischen
Staatsoper Hannover, den Städtischen Bühnen Nürnberg, am ICA in London, in Ulm, Wuppertal und
Freiburg tätig. Seit 1996 ist der gebürtige Schweizer Oberspielleiter an den Städtischen Bühnen
Münster, wo er zuletzt Paradise Lost von Krzysztof Penderecki inszenierte.
Er initiierte mehrere Kompositionsaufträge in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk, dem Zentrum
für zeitgenössische Musik Dresden, dem Teatro Comunale Bologna und der Opera di Roma. Außerdem
ist Peter B. Wyrsch Mitbegründer von verschiedenen Festivals wie zum Beispiel der 6-Tage-Oper in Nürnberg-Fürth-Erlangen
und der 6-Tage-Oper in Düsseldorf-Duisburg-Köln.
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