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Berichte

Lebenshoffnung im Tod

„Bevor wir alle ertrunken sind“ von Kalevi Aho

Eine Frauenleiche sinkt, an einem Seil befestigt, langsam auf die Bühne. Aus der Froschperspektive ist eine Brücke zu sehen, klar: diese Frau hat Selbstmord begangen. Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Anfang der Oper „Bevor wir alle ertrunken sind“. Manche hat die deutschsprachige Erstaufführung in Lübeck verstört, ja sogar schockiert, denn der finnische Komponist Kalevi Aho hat die traditionelle Operndramaturgie umgedreht. Aus der Konsequenz hat er die Exposition fürs Geschehen im selbst verfassten Libretto gemacht.

Die Tote ist die Krankenschwester Maija Salminen. Eine Episode in ihrem Leben, die gescheiterte Liebesbeziehung zum Chirurgen Göran, treibt sie zum Selbstmord. Sie wollte eine intensive Gefühlsbindung, er nur eine Affäre. An der Kälte und Funktionalität seines Verhaltens zerbrechen ihre Wünsche. In enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Johannes Koegel-Dorfs hat Kalevi Aho diese Geschichte als zeitverschachtelte epische Oper inszeniert. Wobei die labile Hauptfigur Maija, hervorragend gesungen und dargestellt von Angela Nick, zugleich Protagonistin und Erzählerin ist. Als Tote erinnert sie sich wie in einem surrealistischen Film an die Ereignisse vor dem Sprung ins Wasser. Dieser vielschichtige und äußerst anspruchsvolle Part für Mezzosopran fügt die gesamte Oper zur organischen Einheit. Und zwar auf mindestens drei Ebenen: als Maijas sichtbare Erinnerung, als nachempfundenes Erlebnis, etwa in Szenen mit Göran, und als Beobachterin „realer“ Handlungen wie der Suche nach ihrer Leiche. Indem nur Maija mit Blickkontakt zum Publikum singt, die anderen Figuren jedoch nicht, entsteht ein anti-kathartischer Effekt aus epischer Distanz und dramaturgischer Nähe. Das Publikum wird zum eingeweihten Komplizen.

   

Angela Nick und Gerard Quinn in der deutschen Erstaufführung von Ahos Oper. Foto: T. M. Jauk

 

So lotst Maija das Geschehen durch mobile Zeitebenen, die doppelbödig sind, und sie selbst tritt auch doppelt auf, nämlich als stummer Körper (Maija-Double: Birgit Schmidt) und singende Seele. Im Libretto gibt es keine Anweisungen für eine doppelte Maija. Regisseur Johannes Koegel-Dorfs hatte diese Idee, um die Absichten des Komponisten zu verdeutlichen. „Ein genialer Einfall“, meint Kalevi Aho. Was zu bestätigen und zu ergänzen ist um ein Lob für das Sinn stiftende, aufs Notwendige eingerichtete Bühnenbild von Barbara Rückert. Durch ein klares Oben (Brücke) und mittels Drehbühne flexibles Unten (Fluss – Klinik – Wohnungen) sowie zugeordnete Beleuchtungen, sind nicht nur der jeweilige Ereignisraum, sondern auch die Zeitebenen zu unterscheiden. Kalevi Aho sagte im Pressegespräch nach der Premiere, er habe bei dieser Oper keine Selbstmordgedanken gehabt, auch könne er keine Menschen retten, „aber meine Musik kann eine therapeutische Wirkung haben.“ Maijas Geschichte sei eine Metapher für das Ertrinken in der sozialen Kälte der Gesellschaft.

Das Lübecker Premierenpublikum empfand genauso, applaudierte begeistert und wohl auch erleichtert, weil das schwierige Selbstmordthema nicht in abschreckende Musik eingebunden ist. Zwar scheut Kalevi Aho in seinem Polystilismus keine Dissonanzen und unangenehme Instrumentalfarben. Zwei Jungen entdecken den Selbstmord, melden ihre Vermutung der Polizei, singend. Saku, der zunächst glaubt, seine Mutter habe sich ertränkt, weil ihr Fahrrad dem ihrer Kollegin Maija gleicht, ist ein Symbol der Lebenshoffnung im Tod. Nachdem seine Mutter unversehrt wieder zu Hause war, möchte Saku ein Radargerät erfinden, um Menschen zu retten. Tobias Grünheidt hat diese Rolle mit bemerkenswerter Sicherheit gesungen, wie auch sein Freund Roto-Christian Jensch. Hoffnung ist dann noch in einer berührend schönen Renaissancemelodie, die zweimal bei Maijas Begegnungen mit dem Tod erklingt. Tod als Erlösung von moralischer Bürde oder als spiritueller Weg zurück ins Leben. Die Musik gibt keine genauen Hinweise, aber sie nimmt die Angst vor dem Tod.

Für Kalevi Aho ist diese Oper „mein wichtigstes Werk“. Auch wenn die Prosodie der deutschen Übersetzung manchmal mit der fürs finnische Original komponierten Musik hadert, so ist doch der Appell an menschliche Wärme angekommen. Nicht zuletzt deshalb, weil die sorgfältige Vorbereitung der Inszenierung von der präzisen Einstudierung der Partitur ergänzt wurde. Die Lübecker Philharmoniker waren unter der Leitung ihres GMD Roman Brogli-Sacher mit dem Gestus und den Stilwechseln dieser Musik bestens vertraut. In Lübeck waren alle Beteiligten nach der Premiere sehr erfreut über die gelungene Zusammenarbeit mit Kalevi Aho. Die Kulturachse Helsinki-Lübeck hat sich also bewährt. Es sollten weitere Projekte folgen, „Bevor wir alle ertrunken sind.“

Hans-Dieter Grünefeld

 

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