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Die Opern von Aribert Reimann (1936–2024)

Dass Aribert Reimann sich schließlich auch dem statischen Drama zuwandte, war 2017 eine Überraschung: In seinen früheren Bühnenwerken war kein Mangel an Aktion und Spannung. In „L’Invisible“ (Das Unsichtbare) aber band er drei Maeterlinck-Einakter zu einer Schreckenstrias zusammen. Dreimal liegt der Tod in der Luft. Dreimal hängt ein Damoklesschwert über einer Gruppe von Menschen, die nicht wissen, wann es herabfallen und wen es treffen wird. Auch wenn die drei Stücke durch die gleichen Sänger verbunden sind, hat Reimann doch jedem eine eigene Atmosphäre mitgegeben, eine immer komplexere Klangwelt. Schwere Pizzicato-Schläge und unheimlich gleitende Streicherakkorde symbolisieren im ersten Stück „L’Intruse“ die Abwehr der Ahnung eines alten Mannes über den Tod seiner Enkelin, ausgerechnet in dem Augenblick, als ihr Baby den ersten Schrei ausstößt. Geheimnisvolle Interludes von drei Countertenören verklammern die drei Episoden – als die drei Dienerinnen der bösen Königin, die dem kleinen Thronerben nach dem Leben trachtet, spielen sie im dritten Stück „La mort de Tintagiles“ eine besondere, verhängnisvolle Rolle.

Aribert Reimann. Foto: Gabi Gerster

Den Sänger*innen schrieb Reimann hier eine Art koloriertes Parlando, das ihre Reden in der Luft schweben lässt. Dazu stellt das Orchester suggestiv eine surreale Atmosphäre her, um uns in Fragen zu stürzen, die nicht zu beantworten sind. In der zweiten Episode „Intérieur“ täuschen die Holzbläser eine fast sakrale Gewissheit vor, die die Todesnachricht vor der Familie zurückhält. Das Todesverhängnis ist nicht sichtbar, findet aber in den Menschen seinen Widerhall – Reimanns Opern sind ja immer Resonanzräume von menschlichem Leid. Und da hat Reimann auch in „L’Invisible“ dem hohen Sopran wieder die größte emotionale Hitze zugeteilt. Wie in dieser Uraufführung Rachel Harnisch, so hatte in der Vorgängeroper „Medea“ bei der Wiener Uraufführung 2010 Marlis Petersen die ausweglos liebende Außenseiterin in die Herzen der Zuhörer gebrannt.

Aribert Reimann war kein Schnellschreiber: „Es ist ja nie ein Vergnügen, solch eine Oper zu schreiben, denn das streckt sich ja doch immer über fast zwei Jahre. Da ist diese dauernde Hochspannung schwer zu ertragen.“ Zuerst versuchte er seinen Figuren auf die Schliche zu kommen und ihre Beziehungen auszuloten. In diesem Prozess entstand dann der besondere Klangraum, der jedes seiner Werke auszeichnet. Bei „Bernarda Albas Haus“ (UA 2000) verzichtete er auf Geigen und Bratschen und setzte zwölf Celli in den Graben, dazu vier Klaviere, Holz- und Blechbläser, ohne Fagotte und Hörner. Die Celli stützten die Vernunft der Magd Poncia – allerdings ließ García Lorcas Text ihr keine Chance, ebenso wenig wie Bernardas Töchtern.

Jeder Partie gab Reimann eine eigene Stimme: „Bei ‚Bernarda‘ bestand die Frage für mich von vornherein darin, wie ich mit den verschiedenen Stimmen umgehe. Wenn man es im Parlandoton singen ließe, könnte man es auch gleich sprechen lassen. Verglichen mit meinen anderen Opern bin ich dadurch über die Gesangslinien noch hinausgegangen, etwa durch die Vorschläge und jene abgerissenen Floskeln, wie sie bei der Poncia gleich am Anfang zu hören sind. Das steht für die Struktur und die musikalische Sprache des gesamten Stückes. Und zwar nicht nur im Orchester – wobei da natürlich eine bestimmte Korrespondenz besteht –, sondern auch in den Singstimmen. Den Druck, unter dem diese Frauen stehen, kann ich nur durch die Stimmen spürbar machen. Bei jeder brennt es, und bei Martirio geht die Schleuder am höchsten. Nur so konnte ich das Stück musikalisch überhaupt angehen.“

Der kompositorische Prozess war es, der Reimann interessierte: „Der Prozess, in dem sich das Material entwickelt, geschieht dann innerhalb des Stückes. Wenn man an manchen Punkten ankommt, stimmt das nicht mehr, was man sich vorher ausgedacht hat. Als ich beim ‚Lear‘ an den Sturm kam, war plötzlich alles ganz anders geworden als ich es mir vorgestellt hatte.“ Die Uraufführung von „Lear“ nach Shakespeare am Nationaltheater München war 1978 Reimanns Durchbruch in die erste Liga. Nicht nur das Haus, auch die Beteiligung von Dietrich Fischer-Dieskau hatte für Aufmerksamkeit gesorgt.

UA von Reimanns „Bernarda Albas Haus“ an der Staatsoper München im Jahr 2000. Die Uraufführung fand am 30. Oktober 2000 im Nationaltheater München statt. Die Inszenierung stammte von Harry Kupfer, das Bühnenbild von Frank Philipp Schlößmann, die Kostüme von Klaus Bruns. Die musikalische Leitung hatte Zubin Mehta. Mehr dazu in: Reinhard Schulz: Klaustrophobische Enge – Reimanns „Bernarda Albas Haus“ in München. Rezension der Uraufführung in Oper & Tanz, Juni 2006. Foto: Wilfried Hösl

Als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin und in der Arbeit mit deren glänzendem Sängerensemble hatte der junge Reimann sein Gefühl für Stimmen schulen können. Bald war er ein begehrter Liederpianist und seinen Sängern ein sachkundiger, empathischer Begleiter. Für Frauenstimmen entwickelte er eine besondere Vorliebe: „Man kann mit Frauenstimmen viel mehr machen. Die Charakteristika der Frauenstimmen vom Koloratursopran bis hinunter zum Kontraalt sind viel größer. Männerstimmen sind schon deshalb problematischer, weil sie selten flexibel sind, wenn man nicht gerade einen lyrischen Tenor oder einen lyrischen Bariton hat.“

Seine Strindberg-Oper „Ein Traumspiel“ entstand nicht durch Zufall in Zusammenarbeit mit der Moderne-Primadonna Carla Henius, die sogar das Libretto schrieb. Michael Gielen sorgte 1965 im Kieler Opernhaus dafür, dass die weitgehend zwölftönige Partitur nicht nur korrekt erklang, sondern auch unter die Haut ging. Der Kritiker in DIE ZEIT wies damals auf die Einflüsse von Reimanns Lehrer Boris Blacher, Weberns Aphoristik und Bergs Formen hin, schrieb aber auch: „Doch bemerkenswerter als Abhängigkeiten ist die selbständige Sicherheit, mit der Reimann den Absprung der Singstimme aus dem Orchester bewirkt, sie stützt, ohne sie zuzudecken, und in den Zwischenspielen den dramatischen Faden weiterspinnt.“

Einer Frauenfigur wandte sich auch die nächste Oper „Melusine“ nach Ivan Goll zu, die 1971 bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführt wurde. Der Naturgeist Melusine scheitert mit Versuchen, die Zerstörung der Landschaft infolge eines Neubaus zu verhindern und hat am Ende die Liebe nicht gewonnen und das Leben verloren. Die Partitur hatte an Ausdruckskraft noch einmal hinzugewonnen, während das Konstruktive in den Hintergrund rückte. Reimann war sich jetzt sicher, dass sein Weg abseits der Mainstream-Avantgarde lag. Das Vertrauen auf den eigenen Instinkt war auch Voraussetzung dafür, dass der Münchner „Lear“ dann die Gewalt eines Elementarereignisses annehmen konnte und bei jeder Aufführung wieder annimmt.

Auch in der Kammeroper „Die Gespenstersonate“, für die Reimann sich selbst das Libretto schrieb, nimmt die Strindberg-Atmosphäre zwanghafte Formen an. Diesmal ist alles stark konzentriert: die Orchesterbesetzung, die Dauer (eineinhalb pausenlose Stunden) und die musikalischen Strukturen. Ein Glücksfall war die Mitwirkung der alten Martha Mödl als „Mumie“ – urkomisch ihre Papageien-Imitation, erschreckend ihre unterdrückte Existenz. Den Zuschauern im Berliner Hebbel-Theater (es war ein Auftrag der Berliner Festspiele) blieb das Lachen im Halse stecken.

Die Euripides-Oper „Troades“ (1985) war wieder ein Auftrag der Bayerischen Staatsoper. Hier wie später in „Bernarda Albas Haus“ hatte Aribert Reimann schon beim Schreiben die Stimme von Helga Dernesch in der Rolle der trauernden Hekabe im Sinn. Es wurde wieder eine Frauenoper: Nach dem Untergang Trojas metzeln die Sieger die Männer nieder und fallen danach über die Frauen her. Wie in den „Trojanern“ von Berlioz warnt Kassandra auch hier vergebens. Der Wahnwitz des Krieges ist der Vernunft nicht zugänglich. Den Wahnwitz der verwalteten Welt entfaltete dann die Kafka-Oper „Das Schloss“ 1992 in der Deutschen Oper Berlin. Für Hoffnung war kein Platz in Reimanns Opern. In dieser Bedingungslosigkeit und in der Präzision seiner Menschenbilder liegt ihre Kraft. Deshalb werden sie sich auf den Spielplänen halten.

Bernd Feuchtner

 

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