Berichte
Ein neues Kapitel
Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ an der Bayerischen Staatsoper
Wer ist hier eigentlich die „Passagierin“? Ist es wirklich jene Frau, in der die frühere Auschwitz-Aufseherin Lisa ihre damalige „Lieblingsinhaftierte“ Marta zu erkennen glaubt? Oder ist es nicht vielmehr Lisa selbst, die auf dieser Atlantik-Überquerung von Europa nach Brasilien zur Passagierin in die eigene Vergangenheit und Schuld wird?
Tobias Kratzers Regieansatz in der Münchner Neuproduktion von Mieczysław Weinbergs Oper von 1968, die erst 2010 ihre sensationelle szenische Uraufführung in Bregenz erlebte, geht eindeutig in diese zweite Richtung. Mehr noch: Mit der Präsenz von Lisa als alter Frau von heute, die mit der Urne ihres Mannes Walter die Schiffsreise unternimmt, zieht Kratzer eine dritte Zeitebene in die vom Ende der 1950er-Jahre nach Auschwitz um 1944 zurückblendende Handlung ein.
Foto: Wilfried Hösl
Dies ist nicht der einzige Eingriff, den Kratzer und Dirigent Vladimir Jurowski vornehmen. Der GMD der Bayerischen Staatsoper hatte Weinberg und seinem Librettisten Alexander W. Medwedew im Vorfeld bescheinigt, mit einer „Betroffenheitsästhetik“ an die Vorlage der polnischen Widerstandskämpferin und Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz herangegangen zu sein und nannte auch die Zugeständnisse an das damalige Sowjetregime beim Namen. Als Konsequenz daraus ist in der Münchner Fassung die Rolle der russischen Partisanin gestrichen, auch einige Stimmungsbilder aus dem Lager sind gekürzt. Die gesungenen Texte wurden aus dem Russischen konsequent in jene Sprachen übersetzt, die für den Handlungsablauf Sinn machen.
Somit unterhalten sich nicht nur Lisa und ihr Mann auf Deutsch über die bis dahin verschwiegene Vergangenheit, auch die KZ-Schergen verbreiten ihr menschenverachtendes Vokabular in der Tätersprache. Dies ist umso beklemmender, als Kratzer auf naturalistische Auschwitz-Rückblenden verzichtet. Diese, so Kratzer, seien nur tolerabel gewesen, so lange Zofia Posmysz als Zeitzeugin noch am Leben war. Da stehen nun also gut situierte Reisende von heute und sprechen das Unaussprechliche aus – die Mahnung ins Hier und Jetzt ist von beklemmender Klarheit. In der Wand aus drei Stockwerken Schiffskabinen (Bühne: Rainer Sellmaier) öffnen sich nach und nach einzelne Innenräume, in denen die inhaftierten Frauen in schwarzen Kleidern auf Tschechisch und Polnisch von ihren Ängsten und Hoffnungen singen.
Beobachtet wird das alles von der alten Lisa, in deren Kopf sich diese doppelte Erinnerung abspielt. Schauspielerisch ist das nicht allzu ergiebig, so viel Intensität Sibylle Maria Dordel auch in ihr weitgehend stummes Spiel legt. Vielleicht hat Tobias Kratzer die eingeschränkten Möglichkeiten der Rolle im Lauf der Probenarbeit erkannt, so dass er sie am Ende des ersten Aktes mit einem als Videoprojektion visualisierten Sprung ins Meer Suizid begehen lässt.
Nach einer viel zu langen Pause – diese kompakte Version der Oper hätte unbedingt am Stück gespielt werden müssen – wird das Bühnenbild abstrakter, die Übergänge in die Auschwitz-Szenen werden fließender. Sehr explizit lässt Kratzer den erotischen Subtext ausspielen, der unter der bevorzugten Behandlung Martas durch Lisa mitschwingt. Eher nüchtern ist die musikalische Schlüsselszene inszeniert, in der Martas Verlobter, der Geiger Tadeusz, dem Kommandanten statt des gewünschten Walzers Bachs Chaconne vor die Füße wirft. Zum zentralen Moment des zweiten Teils wird somit das von Marta gesungene Gedicht Sándor Petöfis.
Musikalisch ist diese Produktion herausragend. Das Ensemble um Sophie Koch (Lisa), Elena Tsallagova (Marta) und Charles Workman (Walter) funktioniert als eindringlich singendes und agierendes Kollektiv, die Präsenz der oft von außerhalb der Bühne zu hörenden Chöre (Einstudierung: Christoph Heil) ist exemplarisch, das Staatsorchester spielt in der zweiten Vorstellung auf überragendem Niveau. Vladimir Jurowski bringt Weinbergs vielgestaltige und die Handlungssphären einfühlsam und doppelbödig charakterisierende Partitur tiefengeschärft und unsentimental zur Entfaltung. Dieser leicht distanzierte Blick korrespondiert schlüssig mit der reflektierten Inszenierung. Kein Zweifel: Kratzer und Jurowski haben mit dieser Produktion ein neues Kapitel der Rezeptionsgeschichte dieses schwierigen Meisterwerks aufgeschlagen.
Juan Martin Koch |