Berichte
Beethoven-Montage
Uraufführung von Charlotte Seithers „Fidelio schweigt“ in Gelsenkirchen
Das Regietheater versucht, historische Werke für neue Lesarten zu öffnen. Dafür verändert das Sprechtheater neben Szene, Kostümen und Requisiten häufig auch Text und Handlung. Im Musiktheater sind Eingriffe in Libretto und Partitur dagegen tabu. Doch genau hier setzt „Fidelio schweigt“ an.
MiR Opern- und Extrachor, Opernstudio NRW, Neue Philharmonie Westfalen. Foto: Karl und Monika Forster
Statt mit einer der vier Ouvertüren, die Beethoven für seine mehrfach revidierte Befreiungsoper „Fidelio“ schrieb, beginnt die knapp zweistündige Montage mit einem neuen Vorspiel: Ketten rasseln, Metall klirrt, Streicher zittern, Glissandi wimmern, Pedaltöne der Posaunen drohen dunkel. Erst dann singt Florestan (forciert Martin Homrich) seine Arie „Gott! Welch Dunkel hier!“ vom Anfang des zweiten Akts. Vom übersprungenen ersten Akt werden im Folgenden nur handlungswichtige Bruchstücke nachgereicht. Der Arie folgt ein neuer Chor der Frauen, die flüsternd und schwer atmend auf die Bühne ziehen, um getrennt durch Panzerglas und Telefonhörer ihre inhaftierten Männer zu besuchen. Der Opernchor des Musiktheaters im Revier Gelsenkirchen und der Projektchor der Neuen Philharmonie Westfalen – einstudiert von Alexander Eberle, dirigiert von Peter Kattermann – wechseln treffsicher zwischen originalem Beethoven und darin eingeschobenen Neukompositionen von Charlotte Seither.
Die 1965 geborene Komponistin zielt in ihrer „Dialog-Oper“ auf Begegnungen sowohl zwischen ihrer und Beethovens Musik als auch unserer Gegenwart 2024 mit der Zeit von Beethovens Opernfassung von 1814, sowie von Gouverneur Don Pizarro (kraftvoll Benedict Nelson) und Leonore (ebenso energisch wie lyrisch Ilia Papandreou) bei einer von Regisseur Hermann Schneider neu hinzugefügten Szene. Dass Fidelio „schweigt“, liegt daran, dass Leonore statt in der bekannten Hosenrolle als mutige Frau mit ihrem eigenen Namen auftritt. Während Beethovens Marsch sieht man die Heldin in Videoprojektionen (Falko Herold und Vincent Mesnaritsch) die Befreiung ihres zu Unrecht eingesperrten Gatten mit Schießübungen, Landkarten, Bauplänen, Fotos vorbereiten. Schließlich wird die tapfere Frau vom herzkranken Gefängniswärter Rocco (ausdrucksstark Almas Svilpa) als Gehilfin engagiert.
Auf den Gefangenenchor „O welche Lust, in freier Luft“ folgen geräuschvolle Störelemente und ziehen Gefangene mit klappernden Ketten und Blechgeschirr vorüber. Dann treten klagende Glissandi, düster anrollende Paukenwirbel und markige Trommelschläge zwischen die vertrauten Beethoven-Nummern. Die Wechsel bleiben meist blockartig und eröffnen kaum neue Perspektiven, Erkenntnisse und Hörerfahrungen. Alt und Neu treten nicht wirklich in Dialog. In einer Halluzination sieht man Florestan, wie er von Frauen die letzte rituelle Waschung vor seiner drohenden Ermordung erhält. Dazu sausen Windmaschinen und singen die Soprane hell und klar wie bei Luigi Nono als Symbol für Mitgefühl und Menschlichkeit. Vieldeutig bis zur Unverständlichkeit bleibt das Treffen von Pizarro und Leonore im Hotelzimmer. Die beiden hatten früher anscheinend ein Verhältnis, jetzt aber verachtet sie ihn und erwartet er für die Freilassung ihres Mannes sexuelle Gegenleistungen.
Im Kerker treffen die Hauptfiguren schließlich zusammen. Pizarro hält Florestan die Pistole an die Schläfe, Leonore zielt auf den Gouverneur. Zwei Schüsse knallen, und beide Männer liegen tot am Boden. Leonore taucht daraufhin unter. Sieben Jahre später kehrt sie als Justizministerin in das Gefängnis zurück, um es als Gedenkstätte „In Memory of all Victims of Tyranny“ einzuweihen. Dazu erklingt Beethovens Jubelchor „Heil sei dem Tage, heil sei der Stunde“. Der Freudentaumel bricht jedoch abrupt ab. Erneut sieht man Leonore im Hotelzimmer, nun allein in unbestimmte Richtung fragend und fordernd: „Und ich? Wer rettet mich? Schau mich, schau dich an.“ Auch der Schlusstriumph „Wer ein holdes Weib errungen“ verliert plötzlich seine Tuttikraft und schrumpft zum Streichquartett. Als Ministerin Leonore ans Pult tritt, um ihre Ansprache zu halten, geht das Licht aus und ist die Vorstellung zu Ende. Einen Reim auf ihr Schweigen muss sich das Publikum dann selber machen, frei nach Bertolt Brecht: „Vorhang zu und alle Fragen offen.“
Rainer Nonnenmann |