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Musikdramatisch packender Appell
„LES MISÉRABLES“ IM GÄRTNERPLATZTHEATER MÜNCHEN

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Musikdramatisch packender Appell

„LES MISÉRABLES“ IM GÄRTNERPLATZTHEATER MÜNCHEN

Dieser Zug der Mühseligen und Beladenen durch die Jahrhunderte ist schier endlos… begleitet meist auch von klagender Hoffnung auf ein besseres Morgen. In der aufklärerischen Höchstkultur singt dann 1791 Tamino „O ew’ge Nacht! Wann wird das Dunkel weichen?“ auf dem „Zauberflöten“-Weg seiner Menschwerdung. Sehr viel politischer und gesellschaftskritischer hat dies Victor Hugo in jahrelangem Schreiben an seinem groß angelegten Roman „Les Misérables“ bis 1862 anklagend gefragt. Davon gibt es verkürzte Ausgaben, Dramatisierungen und Verfilmungen – und seit 1980 einen fulminanten Musical-Erfolg in Paris, ab 1985 in London und dann theaterweltweit. Nach jahrzehntelangen, zähen Verhandlungen darf das herausfordernde Werk nun erstmals in einem Repertoirehaus gespielt werden, dem Gärtnerplatztheater in München.

Mit „Musical“ wird zu sehr reizvolle Unterhaltung verbunden. Bei „Oper“ denken viele an gewichtige Hochkultur auf dem Podest. Beides trifft auf „Les Misérables“ nur bedingt zu: Es ist vielmehr herausragendes Musiktheater, das vieles an Musicals und Oper künstlerisch in den Schatten stellt. Der Blick auf die Ausgenützten und Ausnützer ist realistisch bitterer und vielfältiger aufgefächert; folglich sind nahezu alle Texte differenzierter, anspruchsvoller und aussageintensiver als viele, viele Libretti; menschliche Sehnsüchte erwachsen aus herben Realitäten; Glück leuchtet kurz und vergänglich oder nur utopisch auf; christliche Moral und Ethik sind als Bezug präsent, doch nur Myriel, der Bischof von Digne, praktiziert „Kommet zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken“: Er überlässt dem einstigen Brotdieb und Ex-Sträfling Jean Valjean gestohlenes Altar- und Tischsilber als Geschenk, ermöglicht dessen Aufstieg zum angesehenen Bürgermeister sowie angesichts des Sternenhimmels zum Wohltäter und Ziehvater der Waisen Cosette mit der Einsicht zur Wahrheit und zu „Liebe nur ist ewig“.

Les Misérables auf den Barrikaden: hier Thomas Hohler als Marius, Merlin Fargel als Enjolras und Ensemble. Foto: Ludwig Olah

Diese Lebenswege sind eingebettet und werden wiederholt dominiert vom sozialen Elend der Frühindustrialisierung, gipfelnd in der Pariser Revolution von 1832 mit ihren über 800 Toten und einer Ordnungsmacht, deren Personifizierung in Kommissar Javert und seinem Blick in den Sternenhimmel mit „Pflicht ist Pflicht“ bitter endet: er erkennt, dass ihn Valjeans zweimalige Güte in „Höllennot“ versetzt hat, so dass er sich in die Seine stürzt: „ich leb‘ nicht in der Schuld eines Diebs“. Parallel verläuft der kurze Lebensweg Fantines, die als uneheliche Jungmutter früh im Elend endet und Tochter Cosette an Valjean als Lebensaufgabe übergibt. Er rettet Cosette aus der kleinkriminell-raffgierigen Familie der Thénardiers, die sich mit Suff, Betrug und Mord durch die Zeitläufte schmarotzen. Ihre Tochter Éponine träumt trotzig-hoffnungslos vom „kleinen Glück“. Ihr kleiner Bruder Gavroche schlawinert sich als pfiffiger Straßen-Filou so durch, stirbt aber wie Éponine in den Barrikadenkämpfen. Davor hat Cosette im Studenten Marius die Liebe ihres Lebens gefunden; ihn rettet Valjean von der Barrikade durch die Kanalisation und stirbt angesichts des jungen Glücks.

All das haben Alain Boubil und Herbert Kretzschmer in nichts beschönigende Texte gefasst (Deutsch: Heinz Rudolf Kunze). Im Zentrum hat Claude-Michel Schoenberg, umgeben von einem kreativen Team bis hin zu Trevor Nunn, dieses riesige Panorama in eine Komposition von höchstem Niveau gebettet – musikalisches Theater ersten Ranges. Immer wieder steht das aufklärerische Ideal „Licht“ der „Nacht“ gesellschaftspolitischer Realität gegenüber – so wie Valjean und Javert den Sternenhimmel konträr erleben. Fantines finales „Ich hab‘ geträumt vor langer Zeit von einem Leben, das sich lohnte“ kann neben den größten Sterbeszenen bestehen – wenn eine zerbrechlich anrührende Wietske van Tongeren sie „lebt“. Éponines tränenrührendes Sterben in Marius’ Armen „Ich hab‘ ihn nur für mich allein“ erreichte auch durch Katja Bischoff diese abgründige Höhe. Der mit stupender Bühnenpräsenz begabte, dreizehnjährige Philipp Hopf aus dem Kinderchor des Hauses machte aus Gavroches „Bist du arm, bist du Tier“ eine echte Attacke und sein Tod ließ das Premierenpublikum schmerzlich aufseufzen.

Julia Sturzlbaums Cosette und Florian Peters Marius gelang ein schon auch mal „süßes“, aber eben auch vom „Schicksal“ bedrängtes Liebespaar – denn den genesenden Marius umstanden in rauchigem Gegenlicht mit „Leere Stühle, leere Tische“ auch einmal die toten Mitstudenten in einer atemverschlagenden Erinnerung. Das derbe und verlogene Durchwuseln der Thénardiers wurde durch Dagmar Hellberg und Alexander Franzen leider glaubwürdige Gegenwart. Daniel Gutmanns Javert reihte sich mit markantem Bariton neben den großen Bühnenfinsterlingen ein. Und für den differenziert zwiespältig wirkenden Valjean von Armin Kahl musste Regisseur-Intendant Köpplinger zu Beginn der Pause auf die Bühne kommen: Der kursierende Virus hatte so zugenommen, dass ihm Ruhe verordnet wurde, und die Alternativbesetzung, der ebenbürtige Filippo Strocchi nahtlos übernahm.

Die ganze übrige Besetzung müsste einzeln gelobt werden: denn aus dem durchweg solistisch agierenden, dennoch klangstark singenden Chor (Einstudierung Dovillé Šiupényté) tauchten viele kleine Menschenporträts auf – und versanken wieder – wie dieser bis heute endlose Zug der Elenden dieser Erde – „Schaut her und seht den Abschaum unsrer Zeit“ –, die hoffen „Morgen bricht die Wahrheit an …“, die sich bestärken mit „ein Sturm wird aus unseren Qualen … an der Wende der Nacht“, die die „Symphonie von Menschen, die nicht länger Sklaven sind … auf dem Weg in hell’re Zeit“ singen. Aus dem Graben kam die Bestätigung, was kein Tournee-Orchester auf diesem Niveau leisten kann: die knallharten Rhythmen, das Aufleuchten in den Streichern, die fließenden Übergänge von Sprache in Gesang und die Überwältigung durch Klangrausch – tutti bravi, allen voran für Dirigent Koen Schoots, frenetischer Jubel, sofortige „standing ovations“.

Das unsichtbare Masken-Umkleide-Hausteam um Rainer Sinell (Bühne), Ute Meenen (Kostüme) und Ricarda Ludigkeit (Choreografie und Co-Regie) hatte Regisseur Köpplinger einen Wurf ermöglicht, der nicht hinter Londons West End oder dem Broadway zurücksteht. Im nachtschwarzen Raum kreiste die Drehbühne rasant und staunende Aufmerksamkeit fordernd. In reißend strömendem Wechsel drehten Szenen nach vorne, während ein schwarzer Hänger in der Bühnenmitte herabfuhr und der Umbau zur nächsten Szene nahtlos gelang. Einfach: szenische Fantasie durch bestes Bühnenhandwerk auf Staatstheaterniveau – fesselnd, mitreißend, herzbewegend. Denn am Ende branden alle stürmisch nach vorne und fragen, ob wir ihn hören, den „fernen Trommelschlag? Es ist die Zukunft, die er bringt – Und der neue Tag! Der neue Tag!“ Aus der emotionalen Überwältigung, aus diesem Theater für unsere Tage müssten Einsicht und Lösungen erwachsen …

Wolf-Dieter Peter

  • Ab Oktober wieder im Spielplan des Staatstheaters am Gärtnerplatz

 

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