Berichte
Erotische Energie, psychische Power
Zur Uraufführung von Ehrenfellners „Karl und Anna“ im Kleinen Theater Würzburg
Durch Anlass, Aufwand und Resultat wurde die Uraufführung des Auftragswerks ein nachdrücklicher Erfolg. „Karl und Anna“ war als erstes Musiktheater für den am 2. Dezember 2023 eröffneten Erweiterungsbau des Mainfranken Theaters Würzburg mit zwei neuen Spielstätten bestimmt: die Probebühne mit 125 Publikumsplätzen und das Kleine Haus als Hauptspielstätte des Schauspiels mit etwa 330 Plätzen. Bis zur vollendeten Sanierung des neuen Großen Hauses im Theater-Kopfbau (geplant 2026) spielen Musiktheater und Ballett weiterhin in der Ersatzspielstätte Theaterfabrik Blaue Halle.
Minkyung Kim (Marie, ganz links), Daniel Fiolka (Richard), Vero Miller (Anna), Martin Berner (Karl).
Foto: Nik Schölzel
Das vieraktige op. 48 des österreichischen Komponisten Christoph Ehrenfellner, geboren 1975, folgt der 1926 erschienenen Novelle „Karl und Anna“ des in Würzburg geborenen Autoren Leonhard Frank (1882–1961). Mit Roland Schimmelpfennig gewann Operndirektor Berthold Warnecke einen renommierten Librettisten. In der sibirischen Steppe erzählt der Soldat Richard seinem Kameraden Karl derart eindringlich von seiner Frau Anna, dass Karl dieser in geheimnisvoll realitätsnahen Visionen verfällt. Karl kann fliehen und gibt sich bei Anna als deren Mann Richard aus. Anna entwickelt für Karl eine immer stärkere Leidenschaft. Als der echte Richard zurückkommt, verlässt das neue Paar die Wohnung. Am Ende kündigt sich eine Annäherung zwischen Richard und der Nachbarin Marie an.
Das Publikum zeigte sich in der sechsten, sehr gut besuchten Vorstellung bis zur letzten Sekunde gebannt. Ehrenfellner nennt Bergs „Wozzeck“ als Vorbild. Aus der Leitmotiv-Konstruktion über Franks seismographisch sensiblen Text hört man allerdings mehr Harmonien à la Richard Strauss und das Irrlichtern des Edith-Piaf-Lieds „La vie en rose“. Die Kammerbesetzung mit Harfe und umfangreichem Schlagwerk hat Ehrenfellner mit auch in der Fahlheit üppigen Klängen bedacht. Die vier Hauptpartien werden gefordert wie in einer spätromantischen Oper, ebenso der Chor mit umfangreichen Aufgaben. Bühnenbildner Johannes Schütz postiert das Philharmonische Orchester Würzburg hinter ein erhöhtes Quadratpodest mit Gitterplatten, den Opernchor des Mainfranken Theaters links und rechts davon. Die menschlichen Stimmen dominieren in diesem variablen Spielraum. Die Akustik lässt den Eigenklang einiger Instrumente in mittleren Lagen und hohen Lautstärken freilich verschwimmen.
Der nach Noten singende Chor erzählt von Sibirien und schildert die Wohnanlage Dreihof-Haus. Chorsoli übernehmen mit angedeuteten Kostümen die proletarische Hausgemeinschaft. Die Chor-Kommentare zur ungewöhnlichen Dreieckssituation verleihen der Oper eine balladeske, spannungsfördernde Struktur. Als Finale erklingt eine schlichte A-cappella-Hymne mit Maries schwebendem Solosopran. Chordirektor Sören Eckhoff wird zum Ko-Dirigenten neben Gábor Hontvári. Beide stehen sich an diagonalen Ecken der Bühnenfläche gegenüber. In diesem Raum geht es vor allem um ausbalancierte Klangfülle und optimale dynamische Staffelung.
Intendant Markus Trabusch setzte die Vertrautheit der Kriegskameraden und die Annäherung des neuen Paars Anna und Karl mit lakonischen und brennenden Gesten in Szene, ohne übersteigerte Akzente: Diese Ökonomie der Bewegungen und intensiven Blicke erhöht im Kontrast zu Ehrenfellners opulenten Klangkaskaden die psychische Power.
Nicole von Graevenitz machte die Rivalen Karl und Richard mit hellen Leibchen, grauen Hosenträgern und Hosen in Türkis zu textilen Zwillingen. Die Mezzosopranistin Vero Miller gibt der Zerrissenheit Annas eine warm flutende Intensität. Minkyung Kim meistert als Marie ihre Lulu-nahen Koloraturläufe exzellent. Daniel Fiolka als Richard wird erst beim letzten Auftritt dünnhäutig. Martin Berner als Karl wirkt insgesamt etwas gröber. Damit liefert er eine packende Leistung zwischen erotischer Energie und rigorosem Handeln. Das auf Klatsch versessene Duo der Mädchen Elfie und Alma gestalten Anastasia Fendel und Jasmina Aboubakari als komödiantische Intermezzi. Die Würzburger Uraufführung bot in dieser Frank-Hommage eine ideale Besetzung. Begeisterter Applaus für eine neue Oper, die den „Staub des Jahrhunderts“ (Christoph Ehrenfellner) vom Sujet nicht ganz „abpustet“ und gerade deshalb hohe Authentizität hat.
Roland H. Dippel |