Berichte
Elektronische Reifezeit ohne physischen Chor
Roman Haubenstock-Ramatis „Amerika“ zum Kafka-Jahr an der Oper Zürich
Welchen Beitrag kann ein großes Opernhaus zum Kafka-Jahr 2024 leisten? Einige Musiktheater-Werke nach seiner Prosa gibt es, zum Beispiel „In der Strafkolonie“ und „Der Prozess“ von Philip Glass oder „Das Schloss“ von Aribert Reimann. Die Oper Zürich entschied sich für „Amerika“ nach Kafkas gleichnamigem Roman in der Bühnenbearbeitung von Max Brod und in der faszinierenden Vertonung durch Roman Haubenstock-Ramati (1919–1994). Die Vorstellungsserie wurde zum imposanten Erfolg. „Amerika“ erweist sich in der ersten Neuproduktion seit zwanzig Jahren wie Schönbergs „Moses und Aron“, Stockhausens „Licht“-Zyklus oder Zimmermanns „Die Soldaten“ als spannendes, die Spartengrenzen sprengendes und auch durch seine Migrationsthematik maßgebliches Opus des 20. Jahrhunderts. Die Zürcher Neuinszenierung von Sebastian Baumgarten war nach der vom Publikum umkämpften Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin unter Bruno Maderna 1966 sowie Produktionen in Graz unter der musikalischen Leitung von Haubenstock-Ramatis Kompositionsschüler Beat Furrer 1992 und Bielefeld 2004 erst die vierte Realisierung des äußerst anspruchsvollen Werks. Ein Kraftakt für die Interpreten und nicht minder die bestens aufgestellte Tonabteilung des Opernhauses.
„Ich hatte so etwas vorher noch nicht gesehen, die grafische Notation, die kalligrafischen Zeichnungen, die ungewöhnlichen Spielanweisungen“, staunte der Dirigent Gabriel Feltz über Haubenstock-Ramatis Partitur. Einerseits nötigen die individuellen Notationssysteme alle musizierenden und singenden Mitwirkenden zu größtmöglicher Präzision. Andererseits gewährt die approximative Tonhöhennotation auch Freiräume. Es gehörte zum formalen und ästhetischen Prinzip des musikalisch durch Darmstadt und Donaueschingen sozialisierten Haubenstock-Ramati, dass sich die Notationsformen mit den Ortswechseln des Protagonisten Karl Roßmann aus der Alten in die Neue Welt zu Anfang des 20. Jahrhunderts verändern.
Auch die Möglichkeiten des Sound-Designs haben sich seit der Bielefelder Produktion vor zwanzig Jahren enorm gewandelt. Neben dem Live-Orchester im Graben bestimmen bis zu drei vorab aufgenommene und über Lautsprecher zugespielte Orchester das musikalische Gesamtgeschehen. Bei der Uraufführung 1966 gab es vier Kanäle und vier Lautsprecher. Bis zur Grazer Aufführung 1992 war der technische Fortschritt bereits beträchtlich. In Zürich verfügte man nun über ein technisches Equipment von achtzig Lautsprechern einer fest installierten Surround-Anlage und zeitgemäßer Software.
Wahlkandidat: Sebastian Zuber mit Tänzerinnen und Tänzern der Oper Zürich Foto: Herwig Prammer
Die Chorstimmen für die Massenszenen im Hafen von New York, im Hotel und im Naturtheater kamen ausschließlich vom Band. Die Oper Zürich hatte das Tonmaterial vom Theater Bielefeld übernommen und, zum Teil unter Einbezug von KI-Technologie, mit einem völlig neuen Sounddesign versehen. Gabriel Feltz nobilitierte Oleg Surgutschow, den Leiter der Zürcher Tonabteilung, zum Klangregisseur und zweiten musikalischen Leiter. So kamen auch die hypertrophen Experimente und Manifestationen der Avantgarde des 20. Jahrhunderts aus den Rebellen- in die Reifejahre.
Sebastian Baumgarten und seine Ausstatterin Christina Schmitt zeigen, dass Kafkas belletristische Amerika-Reise mit dem „echten“ Amerika des frühen 20. und auch 21. Jahrhunderts nur wenig zu tun hat, dieses Amerika mehr ein Raum der Irritationen als der Sehnsüchte ist. Die Inszenierung perpetuiert aber den Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten und setzt zugleich Fragezeichen durch Bizarres, Poetisches, Technisches, Hypothesen. Aufgrund der Musik kommt die Szene nur selten aus Slow Motion heraus, was die träumerische Aura intensiviert. In diesem packenden Panorama wird Inhaltlichkeit durch die Kraft der Klänge und Bilder zweitrangig.
Wie geht es am Ende von Franz Kafkas Roman-Fragment „Der Verschollene“ und der Oper „Amerika“ weiter mit dem siebzehnjährigen Karl Roßmann, der nach Verführung eines Dienstmädchens von seinen Eltern nach Amerika geschickt wird, um dort das Leben und die Welt kennenzulernen? In Zürich war Paul Curievici dieser Wanderer zwischen den Sphären bis zum Großen Naturtheater von Oklahoma mit Märchen- und Cartoonfiguren inklusive Rübezahl und Froschkönig. Dass der mit Delikatesse singende Tenor in Baumgartens bildstarker Inszenierung dem Komponisten ähnelte, ist kein Zufall. Nur durch eine willkürliche Gefangennahme von den Sowjets entkam Haubenstock-Ramati dem Holocaust. Nach abenteuerlichen Fluchten und einem Palästina-Aufenthalt fand er in Österreich eine Heimat, wurde Lektor des Musikverlags Universal Edition und Kompositionslehrer. „Amerika“ ist das größte seiner drei Bühnenwerke neben der Anti-Oper „Comédie“ nach Beckett und „Unruhiges Wohnen“, einer Zusammenarbeit mit der jungen Elfriede Jelinek. „Mein Amerika liegt zwischen Chaplin und Fellini“, sagte Haubenstock-Ramati.
Karl Roßmann wandert demzufolge durch ein mysteriöses und groteskes Wunderland, in dem man mit logischer Vernunft nicht weiterkommt. Die Atmosphären – sogar die beklemmenden – waren in Zürich üppig und dabei sehr gesättigt. Christina Schmitts Ausstattung blieb im Licht Elfried Rollers zwar dunkel, wirkte aber nicht pessimistisch. Schwarzweiß-Ansichten amerikanischer Wohnhäuser, davor Neonröhren, knallbunte Dresses der Nobelstatisterie, virtuose Rap-Eskapaden und aberwitzig tolle Tanzensemble – von Takao Baba mit brillantem Chic choreographiert – boten Augenreize mit Reminiszenzen an das späte 20. Jahrhundert.
Passend glamourös fraß sich auch der Soloauftritt von Allison Cook als Sängerin Brunelda in das wohlige Dunkel. Zum bizarren Höhepunkt geriet ihre Badewannen-Nummer unter einem Bodywatch-Display mit dem bizepsstarken Delamarche (Georg Festl), bis Brunelda und ihre Gehirnströme ermatteten. Dass Karl Roßmann in diesem phantastischen „Amerika“ eine mehr oder weniger aussichtslose Orientierungssuche betreibt, ging im Rausch der Szenen unter. Gegenwartsbezüge wie die Wahlkampfrede „I love you“ ergaben sich mit Leichtigkeit. Noch stärkeren Eindruck machten die symbolhaften Spielorte wie das Hotel Occidental. Regisseur Sebastian Baumgarten wirkte vor allem als Vernetzer zwischen den szenisch-dekorativen Modulen und Haubenstock-Ramatis elektroakustischen Lockrufen.
Die Fülle der Bedeutsamkeit wurde durch Übertitel der Schauplätze aus Max Brods Bühnenbearbeitung des Kafka-Textes noch weiter aufgerissen. Jeweils mehrere Partien verkörperten Robert Pomakov, Mojca Erdmann, Ruben Drole, Benjamin Mathis und Sebastian Zuber. Irène Friedli als Oberköchin verpasste Karl eine Stelle als Liftboy – da stand Baumgartens „Amerika“ auf einmal zwischen Thomas Manns „Felix Krull“ und Wes Andersons phantastischer Filmkomödie „Grand Budapest Hotel“.
Zur Musik entwickelte Baumgartens Bühnenvision eine fluoreszierende Relation. Von einem Parkett-Platz an der hinteren Hufeisen-Kurve klangen die Raumwanderungen und Echo-Dialoge elektronischer Klänge faszinierend. Zwischen wenige Fortissimo-Attacken setzte Haubenstock-Ramati überwiegend transparente, glänzende Verbindungen. Die Übergänge zwischen physischer Präsenz der Philharmonia Zürich und Zuspielungen wurden erst merkbar, als Sounddesign (Raphael Paciorek) und Klangregie Hörbares auf Wanderschaft durch den Raum schossen. Die Abstimmung mit den Sängerstimmen gelang perfekt und suggestiv. Dirigent Gabriel Feltz koordinierte dieses Musiktheater-Hybrid, das mit einer traditionellen Definition von Oper nicht zu fassen ist, souverän. Riesiger Jubel.
Roland H. Dippel |