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Überlegungen zu einem „unmusikalischen“ Autor

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Hintergrund

Kafka und die Musik

Überlegungen zu einem „unmusikalischen“ Autor

Beschäftigt man sich mit der Beziehung Kafka und Musik, so lässt sich dieses Verhältnis biographisch, werkimmanent sowie rezeptions- und wirkungsgeschichtlich in den Blick nehmen. Zunächst findet man Hinweise, dass der Bereich des Akustischen insgesamt Kafka fernstand. Nach Max Brod ermangelte es Kafka „der eigentlichen Musikbegabung“, da seine Auffassung „rein visueller Art war.“ (Brod 1974: 103) Kafka könne, so Brod, die „Lustige Witwe“ nicht vom „Tristan“ unterscheiden. Kafka selbst vermerkt im Tagebuch anlässlich eines vom Deutschen Singverein und Deutschen Männergesangsverein durchgeführten Brahms-Abends im Prager Rudolfinum unter Leitung von Gerhard von Keußler: „Das Wesentliche meiner Unmusikalität ist, daß ich Musik nicht zusammenhängend genießen kann, nur hie und da entsteht eine Wirkung in mir und wie selten ist die eine musikalische. Die gehörte Musik zieht natürlich eine Mauer um mich und meine einzige dauernde musikalische Beeinflussung ist die, daß ich so eingesperrt, anders bin als frei.“ (KKAT 291; 13.12.1911)

Höhne, Steffen/Stašková, Alice (Hgg.), Franz Kafka und die Musik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau

Musik bedeute eine regelrechte Konzentrationsübung in unkonzentriertem Zuhören: „Maxens Koncert am Sonntag. Mein fast bewußtloses Zuhören. Ich kann mich von jetzt an bei Musik nicht mehr langweilen. Diesen undurchdringlichen Kreis, der sich mit der Musik um mich bildet, versuche ich nicht mehr zu durchdringen, wie ich es früher nutzlos tat, hüte mich auch, ihn zu überspringen, was ich wohl imstande wäre, sondern bleibe ruhig bei meinen Gedanken […].“ (KKAT 410; 17.3.1912) Diese Unmusikalität korrespondiere, so Kafka, mit einer ausschließlichen und notwendigen Konzentration auf das Schreiben: „In mir kann ganz gut eine Koncentration auf das Schreiben hin erkannt werden. Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn. […] Jedenfalls darf ich aber dem nicht nachweinen, daß ich keine Geliebte ertragen kann, daß ich von Liebe fast genau so viel wie von Musik verstehe […].“ (KKAT 341; 3.1.1912)

Derartige Äußerungen grenzen Kafka zudem von seinem in hohem Maße musikaffinen Freundeskreis ab, der eine Gewähr für eine intensivere Beschäftigung mit Musik hätte bieten können. Max Brod als Musikkritiker, als Förderer von Leoš Jánaček und Übersetzer von dessen Libretti, oder Oskar Baum als Klavierlehrer und Musikkritiker, um nur zwei wichtige Bezugspersonen zu nennen. Abgerundet wird dieses biographische Bild von Kafkas Erwähnungen, die nur selten auf Besuche von Opern- und Konzertaufführungen rekurrieren, so wie das eingangs erwähnte Brahms-Konzert.

Kann man für Kafka einerseits einen nur begrenzten Zugang zur sogenannten E-Musik konzedieren, so war er andererseits ein enthusiastischer Freund der ‚leichten Muse‘. Neben Besuchen der Prager Theater faszinierten ihn die tschechischen Vorstadtbühnen inklusive Chantals, Kabaretts und Varietés nebst Zirkusveranstaltungen sowie vor allem Operetten und jiddische Musik. Anlässlich eines Besuches von Karl Joseph Millöckers Operette „Der Vice-Admiral“ im Švanda-Theater in Prag-Smíchov berichtete Kafka an Max Brod: „Ich war beim ‚Viceadmiral‘ und ich behaupte, daß man, wenn ein Stück geschrieben werden muß, nur bei Operetten lernen kann. Und selbst wenn es einmal oben gleichgültig und ohne Ausweg wird, fängt unten der Kapellmeister etwas an, hinter der Meerbucht schießen Kanonen aller Systeme ineinander, die Arme und Beine des Tenors sind Waffen und Fahnen und in den vier Winkeln lachen die Choristinnen, auch hübsche, die man als Seeleute angezogen hat.“ (KKABr 1: 83; 07.04. oder 21.04.1908; Höhne 2018/19)

Musik im Werk

Auf einen weiteren Bezug von Kafkas Texten zum Musikalischen haben Zeitgenossen hingewiesen. Kafka, „der Sinfoniker der Prosa“, habe Sätze „klar wie Bachsche Fugen“ erschaffen. „Sie sind mit goldenen Bändern des Klanges ineinander gebunden. Seine Einfachheit tönt, so erhaben ist sie.“ So Manfred Sturmann in einer Besprechung zur Edition des Romans „Prozess“ in der „Königsberger Hartung’schen Zeitung“ (KuRII 119, 28.7.1926). Anlässlich der Herausgabe des „Hungerkünstler“-Bands vermerkte Heinrich Eduard Jacob im „Prager Tagblatt“, die Unmöglichkeit von Kunstvermittlung reflektierend, dass der Hungerkünstler „ein tragisches Gleichnis für eine furchtbare Tatsache [sei]: daß Beethovens ‚Appassionata‘ wirklich nur von einem einzigen Menschen verstanden werden kann – von dem, der sie schrieb.“ (KuRII 79, 28.12.1924)

Eine Analogie mit Mahler zog Pavel Eisner am 16.6.1931 in der „Prager Presse“. Kafkas Leit- und Leidmotivik decke sich mit „Gustav Mahlers ‚Dunkel ist das Leben, ist der Tod‘.“ (KuRII 282) Und der enthusiastische Max Brod übertrug gar einen Aphorismus Karl Barths, nach dem die Engel, wenn sie für Gott musizieren, Bach, unter sich aber Mozart spielen, auf Kafkas Prosa: „Würden die Engel im Himmel Witze machen, so müßte es in der Sprache Franz Kafkas geschehen. Diese Sprache ist Feuer, das aber keinen Ruß hinterläßt. Sie hat die Erhabenheit des unendlichen Raumes, und dennoch zuckt sie alle Zuckungen der Kreatur.“ (KuRI 154)

Stärker noch relativiert wird der Topos des Unmusikalischen, wenn man den Blick auf das Werk richtet. Musik strukturiert leitmotivisch die Handlung in einigen der wichtigsten Erzählungen: „Das Schweigen der Sirenen“, die „Forschungen eines Hundes“, „Josephine und das Volk der Mäuse“, „Die Verwandlung“ mit der Geige spielenden Schwester, der Roman „Der Verschollene“ von den Übungen Karl Roßmanns am Klavier über die Diva Brunelda bis zu den Trompetenfanfaren des Naturtheaters von Oklahama. Bedenkt man ferner die Rolle von Musik im Kontext von Kommunikationsmedien, so lässt sich eine zentrale werkimmanente Funktion konstatieren, die nicht weiter überraschend erscheint, gilt doch Musik seit der Romantik und mittels Schopenhauer und Nietzsche auch in der Moderne als höchste, da von empirischer Wirklichkeit entfernte Kunstform. Für einen Autor, dessen Miss­trauen in die Darstellungskompetenz und Repräsentationsfunktion von Sprache wohl außer Frage stehen dürfte, allemal ein Grund, sich einer Leitmotivik wie dem Musikalischen, die kein Referenzverhältnis zur empirischen Realität besitzt, zu bedienen.

Andererseits findet man im Werk Passagen, die auf eine gewisse Idiosynkrasie des Musikalischen schließen lassen, zumindest einer Musik, die, wie in den „Forschungen eines Hundes“, ekstatische Wirkungen entfaltet, die in ihrer bedrohlichen oder gar dionysischen Überschreitung von Hörgewohnheiten und Erwartungen an die Grenze der Kafkaschen Welt führt: „ihre Musik […] machte mich besinnungslos, drehte mich im Kreise herum, als sei ich selbst einer der Musikanten, während ich doch nur ihr Opfer war, warf mich hierhin und dorthin, so sehr ich auch um Gnade bat […].“ (KKANII 430)

Kafkas Künstlerfiguren, häufig Einzelgänger am Rande der Gesellschaft, bleibt in der Regel die Erkenntnis versperrt, dass Freiheit lediglich eine Fiktion der Moderne sei, weshalb Erzählungen wie „Erstes Leid“ oder „Ein Hungerkünstler“ auch als Weltflucht gestaltet werden, die gerade Kafka, der seine Kunst, das Schreiben jenseits der sozialen Gemeinschaft anzusiedeln suchte, nicht fremd sein dürfte. Dabei kommt dem Motiv des Musikalischen eine zentrale Rolle zu. Musik als der nicht mehr der repräsentationslogischen Vorstellung verpflichtete, unmittelbarste Ausdruck ist für die Wirksamkeit von Kunst im Sinne eines treibenden Prinzips von Welt zu verstehen, die zu einer Entsprachlichung zugunsten des Musikalischen führe, wie in einigen der Texte Kafkas offenkundig wird.

Der unmusikalische Kafka?

Offen lässt Kafka, was er unter Musikalität bzw. Unmusikalität versteht. Zwar gibt es Hinweise auf den musikpraktischen Bereich wie den ‚verzweifelnden‘ Musiklehrer, bei dem Kafka im Klavier- und Geigenunterricht offenbar nicht über die allerersten Anfänge hinauskam, wie er Felice Bauer berichtete: „Wenn ich nur die Melodie des Liedes behalten könnte, aber ich habe gar kein musikalisches Gedächtnis, mein Violinlehrer hat mich aus Verzweiflung in der Musikstunde lieber über Stöcke springen lassen, die er selbst gehalten hat und die musikalischen Fortschritte bestanden darin, daß er von Stunde zu Stunde die Stöcke höher hielt.“ (KKABr 1 243; 17./18.11.1912)

Milena gegenüber erwähnte Kafka eine fehlende familiäre Tradition: „So zweifellos ist es nicht, daß Unmusikalität ein Unglück ist; zunächst ist es für mich keines, sondern ein Erbstück der Vorfahren.“ (KKABr 4 197; 25.6.1920) Greift Kafka somit auf Kategorien der Vererb­barkeit von Musikalität („Erbstück“) bzw. auf Charaktereigenschaften (das fehlende musikalische Gedächtnis) zurück, so scheint – neben der Unfähigkeit zum musikästhetischen Urteil und nicht vorhandener musikalischer Praxis – im Zentrum das Selbstkonzept mangelnder kognitiver Kompetenzen (als Lernen- bzw. Verstehen-Können von Musik) und vor allem mangelnder Erlebnisfähigkeit zu stehen, also die nicht vorhandene Fähigkeit, Musik angemessen empfinden und Freude an Musik entwickeln zu können. Kafka beobachtet bei sich Defizite hinsichtlich Aufmerksamkeit für Musik, Interesse für den Zusammenklang, rasches Auffassen und Behalten von Melodien. Dies korrespondiert mit zeitgenössischen Konzepten von Musikalität, in denen Merkmale des Musikalischen aus den Erscheinungsformen der Musik selbst und den Fähigkeiten, die zur Produktion und Rezeption erforderlich sind, abgeleitet werden.


Nach Billroth, der an die musikästhetischen Anschauungen Eduard Hanslicks („Vom Musikalisch-Schönen“, 1854) anknüpft, bilden die „akustische Wahrnehmungsfähigkeit für Tonhöhen, Rhythmen, Klangfarben“ (Gembris 2009: 76) sowie die Fähigkeit, Melodien zu behalten und zu reproduzieren, die Grundlage von Musikalität. Ferner werden Bedürfnisse nach Musik, die Fähigkeit Musik genießen zu können und die Bereitschaft, seine musikalischen Kenntnisse zu erweitern („ästhetische Arbeit“) in Verbindung mit Musikverstehen und damit Musikalität gestellt. Billroth konstatiert, dass es Menschen gibt, „denen das rhythmische Gefühl nicht angeboren und auch nicht beizubringen ist. Sie müssen absolut unmusikalisch sein, denn die Fähigkeit die rhythmische Gliederung der Töne zu einer Melodie aufzufassen, ist die erste Bedingung zum Erfassen von Musik.“ (Herv. i. O.; zit. n. Gembris 2009: 73) Dies hätte der sich als unmusikalisch stilisierende Kafkas, dem die Fähigkeit abging, am musikalisch strukturellen Geschehen Vergnügung zu empfinden, mit Sicherheit unterschrieben.

Kafka und die Oper

Festzuhalten bleibt, dass sich unabhängig von biographischen und literarischen Belegen sowie deren Relevanz oder Nichtrelevanz für Vita und Werk keinesfalls eine Unvertonbarkeit von Kafkas Werk ableiten lässt, weil vielleicht Kafkas Sprache als interpretierende Begleitmusik ihres eigentlichen Themas keinerlei Deutung neben sich dulde, wie man noch in den 1950er und 60er Jahren vermutete. Ganz im Gegenteil: Gerade Kafkas Werk inspirierte und inspiriert offenbar weiterhin zu einer höchst intensiven kompositorischen Auseinandersetzung, so dass man (siehe Werkverzeichnis; Lüder 2018) von einer ungebrochenen Wirkung bis in die Gegenwart sprechen kann (Höhne/Stašková 2018).

Roman Haubenstock-Ramatis „Amerika“ an der Oper Zürich: Irène Friedli (Die Oberköchin), Paul Curlevici (Karl Roßmann), Georg Festl (Der Oberkellner), Tänzerinnen und Tänzer. Foto: Herwig Prommer

Dass gerade Opern immer wieder auf Texten Kafkas basieren, bildet eine Konstante in der kompositorischen Auseinandersetzung. Opern nach den Romanen „Der Verschollene“ und „Amerika“ gibt es von Roman Haubenstock-Ramati UA 1964 bzw. 1966, Ellis Kohs UA 1970, nach „Der Prozess“ von Gottfried von Einem UA 1953, Philipp Glass UA 2014, Philippe Manoury UA 2001 und Poul Ruders 2005, sowie nach „Das Schloss“ von Rainer Kunad 1961/62, André Lapor­te UA 1986; Aribert Reimann UA 1992 und Michèle Reverdy 1980-86. Als Libretto herangezogen wurden häufig auch Erzählungen, „Die Verwandlung“ von Fiorenzo Carpi 1961, Michael Levinas UA 2011 und Ron Weidberg 1996, „In der Strafkolonie“ von Patrik Bishay o.D., Johanna Bruzdowicz 1968, Philipp Glass UA 2000, David Hönigsberg UA 1998 und Miloš Středoň 1968, „Das Schweigen der Sirenen“ von Rolf Riehm UA 1994, „Ein Bericht für eine Akademie“ von Peter Androsch 2018 und Jan Klusák 1993–97, „Beschreibung eines Kampfes“ von Jan Sandström UA 2005 sowie „Vor dem Gesetz“ von Salvatore Sciarrino UA 2009. Hinzu kommen weitere Opernwerke, die auf unterschiedliche Texte Kafkas zurückgreifen, von Francisco Koll UA 2014; Philippe Fénelon UA 1992 und Zeke Hecker 1994, sowie eine Reihe von Bühnenmusiken.

Die überhaupt erste Opernvertonung Kafkas ist Hans Werner Henzes „Landarzt“ von 1951, ursprünglich als Funkoper entstanden, um dem Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks – Förderung neuer Musik und moderner Literatur – zu entsprechen. Das erklärt die Textverständlichkeit des Werks durch Rezitationsstil, einfache Rhythmik, Verzicht auf klassischen Gesang und pathetische Gesten. Zwölftönig komponiert gibt es ein Landarzt-Motiv und ein daraus abgeleitetes Pferdeknecht-Motiv. 1953 kam es in Köln zu einer Bühnenfassung und zu einer Neufassung 1994 als Konzertversion, bei der über den Einsatz elektronischer Mittel die surrealistische Dimension von Kafkas Text deutlicher hervortritt. Hierzu Henze selbst: „Der oft totgesagte Surrealismus, der sich ständig weiterentwickelt hat, spielt in unserem Tun ebenfalls eine Rolle, nachdem er bisher nur der Malerei und der Literatur nahegestanden hat. Das Traumhafte, Schlafwandlerische, in dessen Bereich die Abstraktionen Farbe annehmen und zu sprechen beginnen, ist das Feld unserer Musiken, Gedichte, Bilder und Ballettschöpfungen. In meiner Vertonung des Kafka’schen ‚Landarztes’ finden sich einige hauptsächliche Elemente dieser neuen Moderne wieder.“

Eine weitere Vertonung von Kafkas Text unter dem Titel „Die schöne Wunde“ stammt von Georg Friedrich Haas (UA 2003). Der österreichische Komponist montiert Kafkas Text mit Ausschnitten aus Edgar Allen Poes „The Pit and the Pendulum“ sowie weiterer Passagen aus Texten von Shakespeare, Ovid, Pietro Aretino, dem „Hohelied“ und Briefen von Rosa Luxemburg. Es geht um bedrohliche und ausweglose Situationen, um das Ausgeliefertsein des Einzelnen, also ein durchaus Kafka gemäßes Thema. Anders als Henze löst sich Haas von der konkreten Vorlage, bleibt aber mit den intertextuellen Bezügen und der teilweise überbordendenden Klanglichkeit der Atmosphäre von Kafkas Werk verhaftet (Hiekel 2018).

NACHWEISE

  • KKABr 1 – Franz Kafka (1999): Briefe 1900–1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch (= Schriften, Tagebücher, Briefe Kritische Ausgabe). Frankfurt/Main: Fischer.
  • KKABr 4 – Franz Kafka (2013): Briefe 1918–1920, ebenda.
  • KKAN II – Franz Kafka (1992): Nachgelassene Schriften und Fragmente II, ebenda.
  • KKAT – Franz Kafka (1990): Tagebücher, hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley (= Schriften, Tagebücher, Briefe Kritische Ausgabe). Frankfurt/Main: Fischer.
  • KuR I – Franz Kafka (1979): Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, hrsg. von Jürgen Born. Frankfurt/Main: Fischer.
  • KuR II – Franz Kafka (1983): Kritik und Rezeption 1924-1938, ebenda.
  • Brod, Max (1974): Über Franz Kafka. Frankfurt/Main: Fischer.
  • Gembris, Heiner (32009): Grundlagen musikalischer Begabung und Entwicklung. Augsburg: Wißner.
  • Höhne, Steffen (2018/19): Kafka und die Kulturindustrie. Dargestellt am Beispiel der Operette, in: Brücken. Zts. für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft 26/2, 99–119.
  • Hiekel, Jörn Peter (2018): Gewachsene Freiheiten. Der Umgang mit Kafkas Landarzt-Erzählung in Musiktheaterwerken von Henze und Haas, in: Höhne, Steffen/Stašková, Alice (Hgg.), Franz Kafka und die Musik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 149–163.
  • Lüder, Sven (2018): Bibliographie zum Thema Kafka und Musik, in: Höhne, Steffen/Stašková, Alice (Hgg.), Franz Kafka und die Musik. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 275–288.

Steffen Höhne

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