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Portrait

Aufbruch in die Zukunft

Die John Cranko Schule feierte 40. Jubiläum · Von Vesna Mlakar

Postkarten mit Wackelbild, Farbkalender, Poster… – so sehen im 21. Jahrhundert die Begleiterscheinungen von Jubiläen aus. Merchandisingartikel, die (über Sinn und Geschmack von Konsum lässt sich ja bekanntlich streiten) das Herz von Fans höher schlagen lassen.

 
Speziell für die Cranko Schule entstanden: „Karneval der Tiere“. Foto: Verena Fischer
 

Speziell für die Cranko Schule entstanden: „Karneval der Tiere“. Foto: Verena Fischer

 

Nun – manch einer hätte sich da etwas Bibliophileres gewünscht, etwas, das John Crankos Vorreiterposition von klassischer Ausbildung in und für Deutschland und 40 Jahren erfolgreichster Ballettschultradition nachhaltiger gerecht geworden wäre. Doch vielleicht ist die Elevenschmiede da zu dicht dran an der großen Compagnie, dem Stuttgarter Ballett und dessen umtriebigem dramaturgischen Betrieb.

Kein eloquenter Rückblick also in Schrift und Bild über Crankos Ziel und das posthume Gelingen, mit der Schule das Fundament für eine solide Balletttradition zu legen. Dafür gab es – wofür Stuttgart auch bekannt ist! – ein großes Fest: Am 25. November 2011 feierte die John Cranko Schule unter Mitwirkung bedeutender und befreundeter Ballettschulen weltweit ihr 40. Jubiläum mit einer Gala im Opernhaus. Den publikumsvergnüglichen Vergleich mit den Gastgebern nahmen, zumeist in Paaren, junge Talente der Ballettschule des Hamburg Ballett, aus Kanadas National Ballet School, der École de Danse de l’Opéra National de Paris sowie der Royal Ballet School London – kurz: aus einigen der renommiertesten Schulen der Welt – auf.

Im Programmangebot der Stuttgarter reüssierte neben „Etüden“ (einem Medley aus choreografischen Versatzstücken der Pädagogen) das 2010 eigens für die Schule mit all ihren Altersstufen entstandene Stück „Karneval der Tiere“ zu Musik von Camille Saint-Saëns. Ihr Urheber, Tänzer und Nachwuchs-choreograf Demis Volpis, wurde selbst von 2002 bis zu seinem Engagement ins Ensemble 2004 an der Akademie der John Cranko Schule ausgebildet.

 
Tadeusz Matacz. Foto: Ulrich Beuttenmüller
 

Tadeusz Matacz. Foto: Ulrich Beuttenmüller

 

Im Kleinen wurde so nachempfunden, was das Stuttgarter Ballett zu Anfang des Jahres anlässlich seines 50. Geburtstags geboten hatte. Wenn man von Stuttgart spricht, denkt man zuerst an einen Namen: John Cranko. Denn ihm gelang nicht nur das sogenannte Stuttgarter Ballettwunder – ein Markstein in der Geschichte des Bühnentanzes in Deutschland – sondern auch die Gründung eines Compagniekörpers, der in gewisser Weise bis heute wie eine Großfamilie funktioniert, wo Ehemalige ihr Können und Wissen vertrauensvoll an Jüngere weitergeben: in Stuttgart – und als Ballettdirektoren, Ballettmeister und Tanzpädagogen an vielen Orten der Welt.

John Cranko (1927-1973), der Brite aus Südafrika, kam 1961 nach Stuttgart. Seine Idee, hier eine seiner Truppe eng verbundene Ausbildungsstätte zu schaffen, konnte er zehn Jahre später verwirklichen. Startete der Schulbetrieb bereits im Oktober, so fanden sich der damalige Kultusminister Wilhelm Hahn, Stuttgarts Oberbürgermeister Arnulf Klett und der Generalintendant der Staatstheater Stuttgart Walter Erich Schäfer am 1. Dezember 1971 gemeinsam mit Cranko zur offiziellen Eröffnung der ersten deutschen Ballettschule ein, die auch Internatsschüler aufnahm. Neu für den Westen des Landes war zudem die im Lehrplan verankerte Kontinuität des akademischen Tanzes von der Grundstufe bis zum Abschluss.

 
„Words unsaid“ an der Cranko Schule. Foto: Verena Fischer
 

„Words unsaid“ an der Cranko Schule. Foto: Verena Fischer

 

1973, in Crankos Todesjahr, wurde den beiden letzten, den sogenannten Theaterklassen, der Status einer Staatlichen Ballettakademie/Berufsfachschule zugesprochen. Was für die Tänzer bedeutet, dass sie nach umfassender Ausbildung – vom Einschulungsalter bis zum ca. 20-jährigen Abgänger – ein staatliches Diplom in klassischem Tanz ihr Eigen nennen können. In ihrer Struktur setzt sich die 1974 nach ihrem Gründer benannte Schule aus der freien, schulgeldpflichtigen Unterrichtseinrichtung „Ballettschule der Württembergischen Staatstheater“ mit ihren Stufen Vorschule 1-4 (Alter 6 bis 9 Jahre; Unterricht pro Jahr von 1x auf 4x wöchentlich ansteigend) – Klasse 1 (Alter zirka 10 Jahre, Unterricht 5x/Woche) – Klassen 2-6 (Alter zirka 11 bis 16 Jahre; Unterricht Montag bis Samstag) sowie zwei kostenfreien ballett-akademischen Jahren zusammen.

Neben erweiterten praktischen Fächern im Ballettsaal stoßen in dieser Endphase Sprachstunden (Deutsch, Englisch), Sozial- und Ballettkunde (unter anderem Anatomie), Tanz- und Musikgeschichte, Schminken und zunehmend die Mitwirkung an Ballett- und Opernvorstellungen oder Schulaufführungen hinzu. Und um den Eleven (nach einer mehr oder weniger langen aktiven Tänzerkarriere) die Berufswahl möglichst offen zu halten, besteht eine Kooperation mit dem Stuttgarter Abendgymnasium. Fehlanzeige beim Nachwuchs gibt es keine: 120 bis 140 Schüler sind ein gutes Potenzial – und aus der Masse der jährlich zirka 15 Absolventen speist sich derzeit (mit fünf bis sechs Neuzugängen pro Jahr) rund die Hälfte des aktuellen Stuttgarter Balletts. Hochkarätige Erste Solisten eingeschlossen. Der Rest – „Schüler der John Cranko Schule sind sehr gefragt“ – findet anderswo seinen Platz.


Unter der kundigen Führung von Ballettmeisterin Anne Woolliams wuchs die Qualität in den Anfangsjahren schnell, und bald sprach sich die Adresse international herum. Seit dem 1. Januar 1999 steht Tadeusz Matacz, ein gebürtiger Pole, inWoolliams Nachfolge. Sein Direktorat untersteht der Leitung von Ballett-intendant Reid Anderson. Finanzielle Träger der Schule sind das Land Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart.

1984 wechselte Tadeusz Matacz nach einer Tänzerkarriere als Erster Solist in Warschau ans Badische Staatstheater in Karlsruhe, wo er sich von 1992 an verstärkt auf pädagogische Tätigkeiten konzentrierte und Einladungen als Ballettmeister nach Frankfurt, Toulouse, Warschau und – von 1997 bis 1998 – Stuttgart annahm. Nicht wenige junge Talente, die sich über die letzten 13 Jahre als Solisten und Choreografen profilierten, verdanken seinem auch als Juror gefragten Auge ihre Entdeckung.
Mataczs Imperium umfasst auf tanztechnischer Seite – neben ihm selbst – acht Ballett- und zwei Gastpädagogen. Zwei Damen kümmern sich um die Stunden- und Probenplanung. Neun Korrepetitoren wechseln sich an den Tasten ab. Dazu kommen Stellvertreterin Sarah Abendroth, administrative Helfer und eine 23-köpfige Crew für Hausverwaltung und Internat (derzeit 32 Plätze). Es kommt aber vor, dass hoffnungsvolle Begabungen abgewiesen werden oder lange Fahrereien auf sich nehmen müssen, weil es keinen Platz für sie im Internat gibt.

Längst, klagt Matacz, entspricht das jetzige Schulgebäude, der frühere Schwabenverlag in der Urbanstraße, dem internationalen Standard nicht mehr; seit 1973 wurde nichts Grundlegendes verändert, die Ausstattung ist nicht nur beengt, sondern total veraltet. „Im Moment funktioniert die Verbindung zwischen Schule und Compagnie sehr gut. Aber ich habe Angst davor, dass – bei weiterem Stillstand – unsere Bemühungen irgendwann im Sand verlaufen, weil wir den Anschluss verpassen.“ Bei nur 2,5 Meter Deckenhöhe (statt wie üblich fünf) sind Sprüngen Grenzen gesetzt. „Hier kann man eigentlich nur mit Babys arbeiten“, zürnt Reid Anderson.

Nach einem Jahrzehnt der Querelen (die Grundsteinlegung sollte eigentlich zum Geburtstag am 1. Dezember 2011 erfolgen) soll sich das dank einer räumlichen Neulösung auf rund 5.900 qm (Gesamtgrundstück: 9.300 qm) in Laufnähe zum Theater bald ändern. Den Wettbewerbszuschlag unter 24 eingereichten Entwürfen für das in Hanglage diffizile Unternehmen mit diversen Nutzungsanforderungen, großem Proben- und Veranstaltungssaal, acht kleineren Tanzsälen, Nebenräumen und einer Internatskapazität für 45 Personen erhielt Ende des letzten Jahres das Münchener Architekturbüro Burger Rudacs. Unter der Auflage, dass Stadt und Land ihrerseits endlich den Baubeschluss fassen, überraschte der Förderverein des Staatstheaters Stuttgart zu Beginn der Jubiläumsgala mit dem Spendengeschenk von einer Million Euro. Die Realisierung des Neubaus wird auf 35 Millionen Euro geschätzt, die sich Land und Stadt teilen. Endgültig geklärt ist die Finanzierung noch nicht. Hinzu kommen außerdem fünf Millionen für die Inneneinrichtung, die Mäzene (Ballettliebhaber, greift in die Taschen!) übernehmen sollen.

Absolventen der John Cranko Schule mischen schon lange mit im Who is who der Ballettstars und Choreografen-Neulinge – trotz der regelrecht unzumutbaren Einschränkungen. Nun ist neue Schubkraft in Sicht, Eröffnungswunschtermin 2016. Was Matacz darüber hinaus umtreibt, ist die um sich greifende Bologna-Reform. „Die Jungen wollen tanzen, und die Ballettwelt legt keinen Wert auf einen Bachelor oder Master – einheitlicher europäischer Hochschulraum hin oder her. Mit dem Bologna-Sys-tem müssten die Schüler wie verrückt Punkte und Stunden sammeln. Sie wären nicht mehr mit Ballett beschäftigt, sondern würden viel Zeit für die Verwaltung opfern.“ Die Angliederung an die Hauswirtschaftsschulen seit 1971 dagegen lässt dem Direktor und seinem Team große Freiheiten, Vorgaben der Musikhochschulen greifen nicht. „Mit dem Neubau kommen wir im 21. Jahrhundert an. Wir hatten schon die Befürchtung, international nicht mehr konkurrenzfähig bleiben zu können.“

Vesna Mlakar

 

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