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Neue Nussknacker-Positionen
Inszenierungen in Deutschlands Süden · Von Alexandra
Karabelas Keine Frage, in der ersten Hälfte der aktuellen Spielzeit
nussknackerte es. Drei Fassungen des globalen Ballettkulturguts
stachen im Süden Deutschlands ins Auge. Das Bayerische Staatsballett
zauberte mit der Wiederaufnahme von John Neumeiers Adaption aus
den Jahren 1971 bis 1973 eine zuckerfreie, elegante und zu Herzen
gehende Hommage an das klassisch-zaristische Ballett in die weite
Bühne des Nationaltheaters. Das Gegenprogramm lieferten die
Bühnen in Regensburg und Nürnberg. In der Domstadt verwandelte
Olaf Schmidt das traditionsreiche Handlungsballett mit Senioren
in ein nachdenklich machendes Tanztheater über das Altern
und Altsein heute. Vier Wochen später riss Goyo Montero in
bester Nachfolge von Mark Morris und dessen 1991 entstandenem,
bissigem Ballettkommentar auf das verlogene amerikanische Familienidyll
das Nussknacker-Motiv am Staatstheater Nürnberg bis auf seine
Hoffmann‘schen Grundfes-ten nieder, um es als leuchtende
Parabel auf die innere Menschwerdung wieder aufzubauen. Nimmt man
Marco Goeckes 2006 vorgelegte, elektrisierende Neufassung hinzu,
ergibt sich derzeit ein spannendes Spektrum zeitgenössischer
Positionen im Umgang mit jenem Stoff, der 1816 von E.T.A. Hoffmann
erstmals unter dem Titel „Nussknacker und Mausekönig“ erzählt
und 1892 von Marius Petipa, Lew I. Iwanow und Pjotr I. Tschaikowsky
für das Ballett umgesetzt worden war.
Zahlreiche Choreografen weltweit haben sich seitdem mit den Artefakten
auseinandergesetzt, die der Uraufführung zugrunde lagen. Zunehmend
wurden neue Deutungsräume erschlossen. Belassen, allenfalls
um weitere Stücke ergänzt, wurde dabei oft Tschaikowskys
Musikkomposition. Die meisten Veränderungen wurden hingegen
wegen dramaturgischer Schwächen im Original-Libretto an der
Handlung und den von ihr transportierten Themen vorgenommen. Als
wichtigste Quellen dienen bis heute Hoffmanns doppelbödig
vom Erwachen des Eros erzählende Geschichte sowie Petipas
Libretto, das sich auf die 1845 von Alexandre Dumas dem Älteren
erstellte Fassung von Hoffmanns Erzählung
berief. Zum populären Weihnachtshit wurde „Der Nussknacker“ in
den USA mit George Balanchines Adaption, die an den Weihnachtsabenden
1957 und 1958 durch das nationale Fernsehnetzwerk CBS in die amerikanischen
Haushalte übertragen wurde. Der dort bis heute anhaltenden
Flut an für europäische Augen zum Teil schier unantastbar
kitschigen „Nussknacker“-Inszenierungen stehen die
europäischen Inszenierungen von Choreografen wie John Cranko
(1966), Rudolf Nurejew (1967), Roland Petit (1976), Heinz Spoerli
(1979), Maurice Béjart (1998) oder eben John Neumeier entgegen.
Abstand gegenüber dieser fast einschüchternden und wegen
ihres prägnanten Figurentableaus so (weihnachts-)bildbelas-teten
Erzähltradition verschaffte sich Marco Goecke durch ein stringentes
Raumkonzept der Leere und eine faszinierende Neubetonung der Geste.
Goeckes Erzählweise von „Der Nussknacker“, uraufgeführt
beim Stuttgarter Ballett 2006, setzt ganz auf den gestischen Körper.
Wenn auch stringent der Handlung folgend, gleicht sein „Nussknacker“-Ballett
einer unablässig Material produzierenden Bewegungsmaschine,
die von knapp 25 vitalen Tänzern verkörpert wird. Hier
wird der Tannenbaum als Sinnbild für Weihnachten nur mehr
in die Luft gezeichnet. Mit spitz gestrecktem Zeigefinger verbindet
am Start die Tänzerin im hautfarbenen enganliegenden Nichts
und in schwarzer Hose die Endpunkte unsichtbarer Zweige miteinander.
Das helle Läuten eines Glöckchens ertönt. Der Goecke-Effekt
tritt ein: Das klingende Geräusch und die ungewöhnliche
Bewegung im Port de Bras fallen in der Wahrnehmung in eins. Die
Grenzen verwischen. Das Läuten findet in der flatternden Hand
statt. Zurück bleibt von dem zarten Anfangsereignis nichts
außer der Erinnerung an die Bedeutung der im Geiste zusammengefügten
Linien, der im Ohr nachhallende Ton, Sehnsucht, ein Gefühl.
Spielort dieses „Nussknackers“ ist die Dunkelkammer
im Innern des Menschen. Schwarze leere Fläche, gesäumt
von klappernden Schranktüren, die unerwartet auf- und zugehen.
Der Zuschauer, längst an die dominanten Mechanismen der Darstellung
gewöhnt, wird aus ihnen entlassen und darf den Leibern und
ihren Bewegungstexten folgend, selbsterzählend in einem Freiraum
agieren. Denn die abertausend Ges-ten, Schritte und kleinteiligen
Bewegungen schaffen die Brücken zurück zum Wort, aus
dem das „Nussknacker“-Ballett ursprünglich herkam.
Die kindliche Wahrnehmung, in die der Zuschauer eintritt, wird
sinnlich evoziert. Mittendrin schiebt sich ein Tänzer im Bärenkostüm
aus dem Bühnendunkel und winkt schmerzhaft-schön zu Mahalia
Jacksons „Silent Night“ dem Tänzer gegenüber
zu.
Dieser performativen Art des Erzählens stehen die mehr repräsentativen
Akzente gegenüber, die Montero und Schmidt setzen. An Goyo
Monteros Inszenierung fasziniert dabei, dass Petipas Klara in der
Gegenwart ankommen darf. Wo Neumeier noch zärtlich-romantisch
und mit feiner Geste das von ihm herausgearbeitete Hauptthema im „Nussknacker“, „den
Abschied von der Kindheit“ und das damit verbundene Erwachsenwerden über
die Metapher des Tanzens umsetzte, hatte Montero sehr lebensnahe
Kindheitsbilder seiner eigenen und der nachfolgenden Generationen
im Kopf. So präsentiert er Klara als Horrortrip für Eltern,
als Abbild des nervenden Tyrannenkinds, um sie sodann auf metaphorischer
Ebene in eine Lehrfigur für das grundsätzliche Verstricktsein
des menschlichen Seins in die Dualität von Gut und Böse
umwandeln zu können. Drosselmeier, verkörpert von der
fabelhaft dramatischen Jaione Zabala, agiert dementsprechend als
ihr Meister, der ihr nach und nach die Augen öffnet, sie gleichsam
hinter und in die Spiegelungen sehen lässt, die man Leben
nennt. So mischt Klara, mit großer Präsenz von Marina
Miguélez interpretiert, alle auf und hat doch dem vorgeschriebenen
Lauf der Dinge zu folgen. Montero zeigt sie als Getriebene der
Geschichte: jener Familienfehde zwischen den Mäusen und den
Menschen der Vorgängergenerationen und der Hoffmann‘schen
Nussknacker-Erzählung im Allgemeinen.
Der Abend startet als groteskes Spiel im Spiel. Die Tänzer
tragen Puppenköpfe, Kostüme, die wie Puppenkleider wirken,
und sie bewegen sich wie Automaten. Dargestellt wird die Vorgeschichte
der Prinzessin Pirlipat, die von der Mutter des Mäusekönigs
in ein hässliches Geschöpf verwandelt worden war und
von Drosselmeier erlöst werden soll. Bevor sie vertrieben
werden kann, verwandelt Frau Mauserinks Drosselmeiers Neffen noch
schnell in den Nussknacker und bringt den vielköpfigen schrecklichen
Mäusekönig zur Welt, den Montero wenig später in
einer irren Raumkonstruktion tatsächlich auf der Bühne
kurven lässt. Kasperletheater für Erwachsene, das bald
in ein grandios inszeniertes, spirituelles Erweckungsspektakel
umschlägt. Am Ende sitzen die Tänzer paarweise an der
Bühnenrampe einander gegenüber, wischen sich gegenseitig
behutsam weiße Farbe aus dem Gesicht, während Klara
Hans lieben darf, weil sie sich selbst in einem anstrengenden Prozess
angenommen hat.
Reihte sich Montero mit diesen neuen, dem Zeitgeist entsprechenden
Akzenten in die von Goecke ganz beiseitegelassene psychologische
Deutungstradition der „Nussknacker“-Rezeption ein,
ging Schmidt den Weg der Ironie und der Dekonstruktion. Statt des
bunten Kindertraums vom Süßigkeitenreich evozierte er
das Bild einer Gesellschaft, die ihre alten Menschen verwahrt und
versorgt, ohne dass es groß zu inneren Begegnungen zwischen
den Generationen kommen würde. Sein „Nussknacker“ spielt
im Altenheim, und Alzheimer ist auch dabei. Klara ist Bewohnerin,
eine alte Braut, die ihren Prinzen Hans geheiratet hat, den sie
aber kaum mehr erkennt. Hans war im Zweiten Weltkrieg, den Kampf
zwischen Zinnsoldaten und Mäusen hat Schmidt schlicht mit
der realen Weltgeschichte kurzgeschlossen. „Nussknacker“ taucht
als Stück im Stück, als Zeit schindende Nachmittagsvorstellung
für Senioren auf und dient gleichzeitig als Erinnerungsraum
für die Geschichte darüber, was das „Nussknacker“-Ballett
einmal gewesen ist. Virtuos verschachtelt Schmidt die verschiedenen
Zeitebenen. Rasch erfolgt der Wechsel der Erzählstruktur:
In weißen Jeans und Oberteilen tanzt die Compagnie die Jugend,
wechselt in die Rolle des Pflegepersonals, Szenen mit den Regensburger
Senioren, allesamt Laienperformer, schieben sich dazwischen. Die
im Kopf der Zuschauer dadurch ausgelöste Vervielfachung der
Erzählungen führt dabei manches Mal an intellektuelle
Grenzen.
Im Vergleich dazu wirkt Neumeiers 1971 beziehungsweise 1973 auf
den Städtischen Bühnen Frankfurts und im Münchner
Nationaltheater erstmals gezeigte „Nussknacker“-Aufführung
weit und geklärt. Wo Montero und Schmidt das Nussknacker-Motiv
in die Gegenwart katapultieren und dem Zuschauer unangenehme Spiegel
vorhalten, überzeugt Neumeiers liebevoller Entwurf bis heute
als wichtige Rückbesinnung auf die Balletttradition.
Alexandra Karabelas
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