Doch das pädagogisch grundierte Papier liest sich so, als genüge ein entsprechendes Angebot, um das junge Publikum zu erreichen. Kein Wort über die letzten Elterngenerationen, denen der Zugang zu künstlerischen Ausdrucksformen bereits versagt geblieben ist, die aber das Wahrnehmen des Angebots ihrer Kinder bestimmen – zumindest seitdem Bildungseinrichtungen die Zuständigkeit dafür abgegeben haben. Werden Eltern, die am künstlerisch-kulturellen Leben nicht teilnehmen, ihre Kinder an ein solches heranführen? Erst recht, wenn es sich um zeitgenössische Kompositionen handelt, wie es das Mannheimer Manifest fordert? „Die Eltern sind das Problem, nicht die Kinder“, so die Erfahrung von Peter Marino (geb. 1968), der nicht nur Werke für Kinder komponiert hat, sondern auch als Theaterpädagoge und musikalischer Leiter im „Club XM“ der Staatsoper Hannover Kinder- und Jugendprojekte durchgeführt hat. „Die Eltern wissen oft nicht einmal, wie sie sich im Theater benehmen sollen.“ Regine Koch, einst Leiterin der von August Everding gegründeten
Abteilung „Theater + „Kindgerechte“ Musik?Bei diesem Hin und Her kam ein Auftrag zur Kinderoper „Rübezahl“ an Bernhard Weidner (geb. 1965) schließlich nicht zustande. Nun will er sie dennoch realisieren, nicht zuletzt aufgrund des guten Librettos. „Ich bin glücklich darüber, weil es Farbigkeit und Musikalität hat“, sagt der Münchner Komponist, der in Würzburg bei Bertold Hummel und Heinz Winbeck studiert hatte. 2003 arbeitete er erstmals mit der Autorin Sybille Neuhaus überaus fruchtbar zusammen. Für das Kinderkonzert „KLONK“ des A•DEvantgarde Festivals war damals „Glück“ entstanden, eine musikalische Szene für Kinder ab sechs Jahren. Als Dramatikerin und Dramaturgin ist Neuhaus bereit, Hand in Hand mit Weidner zu arbeiten und der Musik sprachlich entgegenzukommen. Etwa 80 Minuten lang soll die neue Kinderoper werden. Mit dem Bedarf an sieben Singstimmen und zwölf Instrumentalisten ist bisher keine Uraufführungsmöglichkeit gefunden. Doch den Umfang, den die Länge und der Facettenreichtum des Stoffes erfordern, könne er nicht reduzieren, betont Weidner.
Ein Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Intendanzen und Veranstalter vertreten mit dem Begriff „kindgerecht“ meistens die Ansicht, die Musik müsse anders sein, was dann auf eine Vereinfachung, Verniedlichung und kompositorische Rückständigkeit hinausläuft. Doch weder Hörgewohnheiten noch Vorurteile sind angeboren. Kinder sind vielmehr mit einer kongenialen Empfänglichkeit und Sensibilität für künstlerische Ausdrucksformen ausgestattet. Davon geht auch Weidner aus: „Für mich besteht kein Unterschied zu Erwachsenen, wenn es um den Anspruch an Feinsinnigkeit und Poesie geht.“ Zu entscheiden, was Kindern ästhetisch zugemutet werden kann, sei eine verantwortungsvolle Aufgabe, der er sich jedoch bewusst intuitiv und unideologisch stelle. Phantasie befördern
„Natürlich schlag‘ ich nicht brachialst zu, aber ich habe da kein Blatt vor den Mund genommen“, sagt auch Helga Pogatschar (geb. 1966). Ihre „Mini-Oper für Kinder und Unerwachsene“, ein szenisches Konzert für eine Stimme und ein Neue-Musik-Sextett unter dem Titel „Maus und Monster“ nach dem Text des renommierten Kinder- und Jugendbuchautors Rudolf Herfurtner, fand viel Zuspruch bei Publikum und Kritikern. Die Kinderjury eines Musikmagazins gab der dazugehörigen CD die volle Punktzahl und kommentierte euphorisch. Und obwohl offenbar Theater nach Stücken für Kinder suchen, findet Pogatschars Werk keine Interessenten. Die Pianistin und Komponistin gehört gewiss zu den führenden
Münchner Avantgarde- Musik könne sehr viel Wissen transportieren, betont Pogatschar, solange der pädagogische Zeigefinger allenfalls zum Nasebohren verwendet wird. Neben erzählenden Stoffen sagen ihr auch Assoziationsketten oder absurde und paradoxe Inhalte zu. Pogatschar beobachtet bei Kindern einen unbedarften Umgang mit jeglicher Art von Musik. „Wenn es üblich wäre, dass man Oper hört, würden Kinder auch Oper hören“, ist sie absolut überzeugt. Von Richtlinien und Vorgaben, wie sie das Mannheimer Manifest formuliert, hält sie überhaupt nichts. „Komponisten sind nicht blöd“, entrüstet sie sich vielmehr. Zuhören lernen
Auch Peter Marino hat so seine Probleme mit einem derart dogmatischen Ansatz und dem pädagogischen Grundton. „Dann wird nichts Neues entstehen“, sieht er als Folge. Abgesehen von der klischeehaften und unrealistischen Beschwörung des gleichberechtigten Zusammenwirkens aller Künste – „Regie oder Schauspieler können nicht in den Kompositionsprozess eingebunden werden!“ –, sieht Marino die Orientierung am Kinder- und Jugendtheater als problematisch an. „Oper ist eine viel komplexere Form“, die zudem mit weit weniger Text auskommen muss. Die Erfahrungen aus dem Theater, das sehr konkret und erklärend werden kann, reichen da nicht aus: „Ich würde grundsätzlicher denken“, empfiehlt er. Dass man an die Erfahrungen von Kindern anknüpfen solle, wundert Marino schon sehr. „Oper knüpfte noch nie an Erfahrungen des Publikums an“, außerdem an welche Erfahrungen, und wozu? Wichtig wäre es, Kindern das Zuhören beizubringen, damit sie die übergeordneten Inhalte wahrnehmen können. Inhalte aus dem Leben um uns herum, wie es im Sprechtheater möglich ist, seien keine tauglichen Opernstoffe. Das Eingehen auf das Niveau der Kinder wecke noch mehr Skepsis. „Man muss sich davor hüten, dass die Musik einfach sein muss“, konstatiert er aus eigener Erfahrung. Schon als Kind trieb sich Peter Marino auf dem grünen Hügel herum und hörte unter der Treppe versteckt Wagner-Opern, die für ihn einfach nur Märchen waren. Studiert hat er dann in Würzburg. Als Teilnehmer der Rheinsberger Opernwerkstatt hat Marino dieses Genre sorgfältig gelernt. Aber auch mit Werken für Kinder machte er bereits seine ersten Erfahrungen. „Der gestiefelte Kater“ für ein Bläserquintett, vom NDR auf CD gebannt, wird seit der Entstehung 2004 regelmäßig gespielt. Das Ventus Quintett Salzburg hat bereits ein Nachfolgewerk in Auftrag gegeben: „Die kleine Hexe“ mit dem Text von Otfried Preußler. Für die gerade entstehende Oper „Richard“, eine mit der Librettistin Iris Winkler gemeinsam ersonnene märchenhafte Geschichte um den pubertierenden Richard Wagner, konnte Marino bisher keinen Abnehmer finden. Sinn für QualitätEins bleibt im Mannheimer Manifest unumstritten: „Kinder haben ein Recht auf Teilhabe an Kunst und Kultur.“ In unserer mediendominierten Zeit sei hinzugefügt, dass dies nur in einem unmittelbaren Live-Erlebnis sinnvoll ist, „weil in diesem Erlebnisraum einfach stärkere und persönlichere Erfahrungen möglich sind“, wie Neuhaus und Weidner formulieren. Aber dass man das Genre erst neu erfinden muss, ist wohl ein Irrtum. Werke für Kinder entstehen schon seit vielen Jahren, kommen aber meistens über eine Uraufführung nicht hinaus. Die Gründe dafür sind vielfältig und beginnen mit dem fatalen Irrtum, dass Kinderproduktionen mit einem geringeren Budget auskommen müssen. Halbherzige Unternehmungen verfehlen aber grundsätzlich ihr Ziel, denn Kinder und Jugendliche haben einen ausgesprochenen Sinn für Qualität. Es zeigt sich, dass eklatante Differenzen darüber bestehen, was man Kindern heute zumuten kann. Während sie am PC und vor dem Fernseher mit komplexen und oft brutalen Zusammenhängen spielend umgehen, wird in künstlerischen Dingen das Niveau unentwegt zurückgeschraubt, und alles immerzu didaktisch verabreicht. Der dabei geweckte Eindruck von Banalität und Belanglosigkeit ist der Sache gewiss nicht förderlich. Reinhard Palmer |
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