Paukenschlag aus der Provinz
Salvatore Sciarrinos „Luci mie traditrici“ in Passau · Von
Marco Frei Wenn man der Logik von Nikolaus Bachler folgen möchte, steht
er als Intendant der Bayerischen Staatsoper für das „Mediterrane“ am
Münchner Nationaltheater. „In der Zeit vor mir wurde
viel Gewicht auf den Barock gelegt“, erklärte er unlängst
auf Nachfrage. „Wir legen das Schwergewicht auf das 19. Jahrhundert
und das Neue – sprich: das Mediterrane, das Sinnliche, Südliche,
das München ja auch als Stadt zu bieten hat.“ Trotzdem
ist die Auswahl an „mediterranen“ Werken und Komponisten,
die am Münchner Nationaltheater seit Bachlers Amtsantritt
2008 gezeigt wurden, recht dünn und wenig originell.
Unerklärlich bleibt vor allem eines: Warum wurde auch unter
Bachler bislang noch kein einziges Musiktheater von Salvatore Sciarrino
gezeigt, obwohl es durchaus geeignete Spielorte gäbe? Immerhin
gilt der 1947 geborene Sizilianer, der in Umbrien lebt, gegenwärtig
als der bedeutendste Opernneuerer weltweit, und in seinem Vokalstil
schimmern verschiedene mediterrane Kulturen durch: Kaum ein anderer
Komponist klingt und ist mediterraner als Sciarrino. Dennoch war
man nun auch in der „niederbayerischen Provinz“ schneller
als in München. Jedenfalls hat das Landestheater Niederbayern in Passau, Straubing
und Landshut die erste bayerische Produktion von Sciarrinos „Luci
mie traditrici“ („Mein trügerisches
Augenlicht oder Die tödliche Blume“) gestemmt. Für
München ist dies eine weitere höchst peinliche, schallende
Ohrfeige, denn schon 2002 war die Oper bei den benachbarten Tiroler
Festspielen in Erl bei Kufstein unter Tito Ceccherini zu sehen.
Hieraus ist eine von mittlerweile drei CD-Einspielungen der Oper
hervorgegangen, sie ist seinerzeit beim italienischen CD-Label „Stradivarius“ erschienen.
Die Bedeutung dieses zwischen 1996 und 1998 entstandenen Zweiakters
kann nicht genug betont werden, was vor allem für die Erneuerung
des Gesangs gilt – hier gelingt sie Sciarrino erstmals originär
und konsequent.
Dabei geht es nicht zuletzt um eine Reflexion des Vokalstils aus
der Zeit der Renaissance. Lang gezogene Haltetöne münden
in eine schnelle Figuration, auch hier werden die Vokale und Affekte
betont. Zugleich entsteht eine Art „neues, singendes Rezitativ“,
bei dem sich Gesang und Sprechen ineinander verweben. Das Kammerensemble
greift dies gewissermaßen instrumental auf, hier begegnen
sich Geräuschhaftes, Klingendes und Mikrotonales. Im stillen
Keuchen, Stöhnen, Ächzen und Zittern der Instrumente
steigert sich wortlos das Drama. Es erinnert an die Lebensgeschichte
des Komponisten Gesualdo, der einst seine Frau und ihren Liebhaber
umbrachte oder umbringen ließ.
Bei Sciarrino sieht ein unsichtbarer Diener (Nikolaus Meer), wie
eine Frau (Mandie de Villiers-Schutte) ihren Mann (Ekkehard Abele)
mit einem Gast (Countertenor Roland Schneider) betrügt. Oder
ist das alles nur eine Wahnvorstellung des eifersüchtigen
Gatten? Sciarrino lässt es offen, und mit dieser Reibung von
Sein und Schein arbeitete auch die niederbayerische Inszenierung
von Roland Schwab. Einmal sieht der Diener wie die Tapete an der
Wand aus, dann wieder wie eine Zimmerpflanze – Tarnung oder
Luftgestalt?
Leider hat Schwab die Szenen mit Vorhang strikt voneinander getrennt,
obwohl die Musik als großes Kontinuum gedacht ist. Selbst
der Prolog, der eine Elegie des Renaissance-Komponisten Claude
Le Jeune verarbeitet, ging nicht unmittelbar über in Sciarrinos
originäre Musik. Umso staunenswerter waren die Leistungen
des Orchesters: Obwohl die Musiker keine regelmäßige
Spielerfahrung mit Neuer Musik haben, wurde Sciarrinos Partitur
unter Kai Röhrig mit größter Sorgfalt, Ernsthaftigkeit
und Liebe zum Detail packend verlebendigt. Große Hörmomente
wurden geschenkt, zumal auch die Sänger ausnahmslos brillierten.
Das galt vor allem für Mandie de Villiers-Schutte, die schon
zuvor am selben Haus in der Titelpartie von Claudio Monteverdis „Krönung
der Poppea“ brillierte, sowie für den Countertenor Roland
Schneider. Bereits in der vergangenen Spielzeit war Schneider in
Sciarrinos „Luci mie traditrici“ an der Oper Frankfurt
zu erleben, in München kennt man ihn von Produktionen der
Bayerischen Theaterakademie August Everding; hier sang er unter
anderem in Peter Eötvös’ „Radames“.
Und die Bayerische Staatsoper? Auf Nachfrage verriet Intendant
Bachler, dass er mit Sciarrino im Gespräch sei über ein
Projekt. Man wird ihn auch daran messen, ob auch dies wieder nur
eine Ankündigung bleibt.
Marco Frei |