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Der Jahrhundert-Cellist
Eine Gesprächs-Biografie über den kürzlich verstorbenen
Siegfried Palm
Capriccio für Siegfried Palm. Ein Gesprächsporträt
von Michael Schmidt. Unter Mitwirkung von Theo Geißler,
Juan Martin Koch, Brigitte Palm und Ludwig Harig, ConBrio, Regensburg
2005, 198 S., € 14,80 ISBN 3-932581-71-7
Wenn du ein Solist werden willst, und so scheint es ja, dann werde
ich dich triezen, bis dir das Blut unter den Fingern rauskommt.
Sonst brauchst du gar nicht erst anzufangen.“ 1927 in Wuppertal
geboren, wurde Siegfried Palm von seinem Vater mit unerbittlicher
Strenge auf Kosten von Jugend und Schule unterrichtet. Frühzeitig
spielte er im Städtischen Orchester Wuppertal, leitete das
Schulorchester des Gymnasiums und erhielt direkt nach Ende des Zweiten
Weltkrieges als 18-Jähriger seine erste Stelle als Solocellist
im Städtischen Sinfonieorchester Lübeck, gefolgt von Solistenstellen
beim NDR Hamburg und WDR Köln. Als Cellist von etwa 130 Uraufführungen,
Mitglied des Hamann-Quartetts, Professor einer Meisterklasse für
Cello an der Kölner Musikhochschule (1962–1977) und deren
Direktor (1972–1976), Intendant der Deutschen Oper Berlin
(1976–1981), Präsident der deutschen und internationalen
European String Teachers Association, Präsident des Deutschen
Tonkünstlerverbandes, des Deutsch-Französischen Kulturrates,
der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik und der deutschen
Sektion der IGNM: Mit all diesen Funktionen zählte Palm zweifellos
zu den einflussreichsten Musikern der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts. Am 6. Juni ist er nach längerer Krankheit in
Frechen verstorben und am 13. Juni nahmen seine Familie, Schüler,
Freunde und Wegbegleiter mit einer Trauerfeier in Köln-Rodenkirchen
Abschied von diesem außergewöhnlichen Menschen und Künstler.
Ende der 90er führte Michael Schmidt, Musikwissenschaftler
und Koordinator des Klassikportals beim Bayerischen Rundfunk, mehrere
Gespräche mit Palm. Für das jetzt erschienene Buch, dessen
Titel sich Krzysztof Pendereckis „Capriccio per Siegfried
Palm“ für Violoncello solo (1968) verdankt, das Palm
nach eigener Auskunft weltweit über vierhundert Mal spielte,
führten Theo Geißler und Juan Martin Koch im Sommer 2004
weitere Interviews mit dem bedeutenden Cellisten. Die Transkription
der Gespräche bewahrt authentisch die Impulsivität und
Spontaneität des Erzählers, so dass der lebhafte Causeur
dem, der ihn einmal erlebte, leibhaftig vor Ohren und Augen tritt.
Der Charakter des Buchs als angeregte und anregende Plauderei macht
die Publikation weniger zu einem Capriccio für, als vielmehr
von und mit Siegfried Palm. Tatsächlich handelt es sich kaum
um ein wirkliches Gespräch, sondern um einen langen Monolog,
der allenfalls durch gelegentliche Fragen und Stichworte am Laufen
gehalten wird. Statt eines Porträts ist der Band daher mehr
ein Selbstporträt, mit allen Vorzügen und Einschränkungen.
Manche von Palms Erzählungen gleichen Tiefenbohrungen in
die Musikgeschichte und geben durch alle Verwerfungen, Kriege und
Zerstörungen hindurch Zeugnis von einer erstaunlich kontinuierlichen
Aufführungspraxis vom Beginn des 20. Jahrhunderts bei Hugo
Becker, der mit Max Reger dessen a-Moll Cellosonate gespielt hatte,
über dessen Schüler Enrico Mainardi bis zu Palm selbst,
der 1950 bis 1954 Mainardis Sommerkurse besuchte. Eine Geschichte
für sich ist der Weg seines Instruments von Julius Klengel,
vor dem Ersten Weltkrieg Lehrer von Palms Vater in Leipzig, über
verschiedene Stationen zwischen DDR und BRD bis zu Palm. Hinzu kommen
zahllose Anekdoten über Dirigenten, Kammermusik-Partner, andere
Cellisten, Regisseure, über bestimmte Konzerte und Reisen.
Die Geschichten sind oft eher amüsant als erhellend, dann wieder
bergen sie aufschlussreiche Hintergründe zu Palms Interpreten-Ethos,
seiner Unterrichtstätigkeit und der Entstehung der zahlreichen
für ihn komponierten Stücke von Wilfried Zillig, Bernd
Alois Zimmermann, Krzysztof Penderecki, Mauricio Kagel, György
Ligeti, Yannis Xenakis, Wolfgang Rihm und anderen.
Auch Blödeleien kommen zur Sprache, etwa die dekadente Wirtschaftswunder-Gepflogenheit
der Cellogruppe des Kölner WDR-Orchesters, jeden Zylinder des
Neuwagens eines Kollegen – Palm leistete sich Anfang der 60er-Jahre
einen achtzylindrigen „Diplomat“ – in der Probenpause
mit jeweils (!) einer Flasche Champagner zu begießen –
mit entsprechenden Folgen für den weiteren Probenverlauf. An
anderen Stellen bleibt der Text im Ungefähren stecken und man
wünschte sich gezieltere Nachfragen und Gegenüberstellungen
mit anderen Auffassungen und Positionen, etwa hinsichtlich Palms
rigoroser Ablehnung der historischen Aufführungspraxis, seinem
Abschied von den Donaueschinger Musiktagen, den Konflikten während
seiner Opernintendanz in Berlin und seinen diversen Präsidentschaften,
bei denen seine Dickköpfig- und Halsstarrigkeit ebenso zum
Guten wie Schlechten ausschlagen konnte.
Am Ende des Bandes zeichnet der Schriftsteller Ludwig Harig –
wie Palm Mitglied im Deutsch-Französischen Kulturrat –
eine liebevolle Porträtskizze des „Vollblutrheinländers“
als einen Freund der Künste, guten Essens, Trinkens und exquisiter
Hotels, der – nie egoistisch aber in hohem Maße egozentrisch
– nur Flüge erster Klasse buchte und neben sich einen
Extrasitz für sein Cello beanspruchte. Harig schildert den
Künstler und Verbandspräsidenten als Personifikation des
unabhängigen Menschen, der seine Ahnungslosigkeit in administrativen
Belangen genoss und sich trotz Verachtung für die Kulturbürokratie
und das Funktionärswesen über alle Posten, Orden, Ehrungen
und Auszeichnungen aufrichtig freute. Ergänzt wird der gleichermaßen
informative wie unterhaltsame Band durch einen knappen tabellarischen
Lebenslauf, ein Personenregister, eine Diskografie von Palms veröffentlichten
Aufnahmen und eine nach Gattungen gegliederte Auswahlliste seines
Repertoires an Werken des 20. Jahrhunderts mit gesonderten Vermerken
der von ihm uraufgeführten und ihm gewidmeten Werke.
Rainer Nonnenmann
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