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Ruth Berghaus: Kein Mythos DDR
Corinne Holtz, Ruth Berghaus. Ein Porträt.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2005. 399 Seiten. Gebunden.
25,- €
Gleich eingangs kommt die Rede auf jene „Elektra“-Premiere
1991, die das Publikum im Zürcher Opernhaus spaltete und faszinierte.
Die Gastregisseurin zeigt die Titelfigur in neuer Optik als psychisch
beschädigt – als eine, die unter politischem Druck gegen
sich selbst vorgehen musste. Für Ruth Berghaus war „Elektra“
nach Werken Dessaus und Brechts das erste Repertoirestück,
das sie in Szene setzte, und sie inszenierte es in ihrer Theaterlaufbahn
vier Mal. Das monologische Stück ist geeignet, zu zeigen, was
ihr Theater bis zuletzt ausmachte, ja singulär wirken ließ:
die Kombination von Regie und Choreografie – die Polyphonie
von Körpersprache, Text und Musik, die die Elemente in Brecht’scher
Art trennt, ohne Felsensteins Credo „Alles kommt aus der Musik“
preiszugeben.
Corinne Holtz bringt das Theater der Berghaus am geeigneten Fall
präzis auf den Punkt – chronologische Inszenierungsbeschreibung
aber ist ihr Anliegen nicht. Vielmehr nähert sich die Schweizer
Radiojournalistin dem Phänomen der Ruth Berghaus als realer
Person. Was deren Kindheit betrifft, so sind die Spuren höchst
rar. Autorin Holtz recherchiert, dass der zweite Gatte der Mutter
Maria Totzek, Richard Curt Schöbel, ein Haus in einem Dresdener
Vorort besaß und seit 1933 NSDAP-Mitglied war, und dass Bruder
Horst Jagdflieger wurde. Ruth hingegen, Tochter aus erster Ehe,
fand beim BDM den Einstieg zu Tanz und Choreografie. Holtz unterstellt,
die Kindheit im Nationalsozialismus sei eine erste, untergründig
weiter wirkende Prägung für den weiteren Weg und die Arbeitsweise
der späteren Regisseurin. Solche Thesen bleiben Vermutung,
denn geeignete Zeitzeugen schweigen oder sind – wie die Porträtierte
selbst – inzwischen verstorben. Ohnehin ist, was folgt und
sich zunehmend aufregend liest, sehr speziellen Überlieferungsweisen
geschuldet. Manche Arbeitspartner der Berghaus – Gerd Rienäcker,
Peter Konwitschny, Klaus Zehelein etwa – waren zu Gesprächen
bereit, andere waren es nicht. Der persönliche Nachlass der
Berghaus blieb der Autorin, die auf Unabhängigkeit der Recherche
bestand, verschlossen. Was ihr wichtig erschien, (re)konstruierte
Corinne Holtz aus politischen und Theater-Archiven sowie aus der
Lektüre diverser Stasi-Akten bei der BStU.
Ruth Berghaus’ Entwicklung ist demzufolge von Anfang an auch
in politischem Kontext zu sehen. Ihre Arbeit am Berliner Ensemble,
als dessen Intendantin sie später in zahlreichen Fallstricken
scheiterte und scheitern sollte, begann sie als Parteisekretärin,
um Helene Weigel politisch zu sichern. Das Verhältnis zur SED,
der Berghaus erst 1962 beitrat, war ambivalent. Die Partei, so Holtz,
war widerspruchsvoller Rückhalt und lähmend-produktive
Widerstandsfläche, von der sich die Künstlerin bis zum
89er- Herbst nicht abzunabeln verstand. Eindeutiger war ihr Verhältnis
zur Staatssicherheit. Zeitweise 18 Spitzel agierten in ihrem Umfeld
– einer davon war ihre langjährige Dramaturgin, ein anderer
der Intendant der Berliner Staatsoper Unter den Linden, der Berghaus
1990 (!) noch persönlich entließ.
All dies ist detailreich befragt und beschrieben – die Lektüre
eröffnet Einblicke in den ostdeutschen (später auch den
westdeutschen und den schweizer) Theaterbetrieb, die gewiss nicht
nur Zustimmung finden. Kein Mythos DDR vermittelt sich hier, Autorin
Holtz zeichnet vielmehr ein Leben, das konkrete Theater- und Zeitgeschichte
ertrug und mitschrieb. Ohne Fürsprecher wie zum Beispiel Paul
Dessau, später Klaus Zehelein und Alexander Pereira wäre
ihre Karriere als erste ernst zu nehmende Frau im Männerbetrieb
der Theaterregie kaum möglich gewesen. Denn auch die Opernwelt
in Zürich, Frankfurt/Main, Stuttgart und Hamburg leistete Widerstand
gegen die Vorkämpferin einer Ästhetik, die heute unter
dem Begriff des „Musiktheaters“ firmiert und dessen
Repertoire an Formmitteln weitgehend Standard ist.
Den Ruhm des letzten Arbeitsjahrzehnts genoss Ruth Berghaus, die
1996 verstarb, nur partiell. Sie litt darunter, als Provokateurin
zu gelten und nicht in Bayreuth inszenieren zu können. Für
ihren Ansatz, Richard Wagner als Rebell und eine Oper wie „Rheingold“
als aus französischer Perspektive entstanden zu sehen, fand
sie nach neuerlichen Intrigen in Ostberlin Mitstreiter in Frankfurt/Main.
„Parsifal“ und Wagners Ring – hier gemeinsam mit
Klaus Zehelein und Michael Gielen realisiert – bleiben von
ihr als unauslöschliche Schlüsselmomente deutschen Theaters.
Frank Kämpfer |