Über Kulturföderalismus: „Wenn man aber denkt,
die Einheit Deutschlands be-
stehe darin, daß das sehr große Reich eine einzige große
Residenz habe, und daß diese eine große Residenz, wie
zum Wohl der Entwicklung großer Talente, so auch zum Wohl
der großen Masse des Volkes gereiche, so ist man im Irrtum.
Man hat einen Staat wohl einem lebendigen Körper mit vielen
Gliedern verglichen, so ließe sich wohl die Residenz eines
Staates dem Herzen vergleichen, von welchem aus Leben und Wohlsein
in die einzelnen nahen und fernen Glieder strömt. Sind aber
die Glieder sehr ferne vom Herzen, so wird das zuströmende
Leben schwach und immer schwächer empfunden werden.
Wodurch ist Deutschland groß, als durch eine bewundernswürdige
Volkskultur, die alle Teile des Reichs gleichmäßig durchdrungen
hat. Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten
nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur
eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur
stände? ja auch um einen überall verbreiteten Wohlstand,
der mit der Kultur Hand in Hand geht!
Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten,
und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken.
An Kunstsammlungen und Sammlungen aller Naturreiche gleichfalls
eine große Zahl. Und wiederum die Menge deutscher Theater,
deren Zahl über siebenzig hinausgeht und die doch auch als
Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs
zu verachten sind. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung
ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und das ist auch
etwas!
Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München,
Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken
Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in
sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen auf
die benachbarten Provinzen ausgehen und fragen Sie sich, ob das
alles sein würde, wenn sie nicht seit langen Zeiten die Sitze
von Fürsten gewesen?
Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend,
ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen.
Würden sie aber bleiben, was sie sind, wenn sie ihre eigene
Souveränität verlieren und irgendeinem großen Deutschen
Reich als Provinzstädte einverleibt werden sollten? –
Ich habe Ursache, daran zu zweifeln.“
Über Theaterdirektoren und ihre Regisseure: „Nichts
ist für das Wohl eines
Theaters gefährlicher, als wenn die Direktion so gestellt ist,
daß eine größere oder geringere Einnahme der Kasse
sie persönlich nicht weiter berührt und sie in der sorglosen
Gewissheit hinleben kann, daß dasjenige, was im Lauf des Jahres
an der Einnahme der Theaterkasse gefehlt hat, am Ende desselben
aus irgendeiner anderen Quelle ersetzt wird. Es liegt einmal in
der menschlichen Natur, daß sie leicht erschlafft, wenn persönliche
Vorteile oder Nachteile sie nicht nötigen.
Wäre ich der Großherzog, so würde ich künftig,
bei einer etwa eintretenden Veränderung in der Direktion als
jährlichen Zuschuss ein für allemal eine feste Summe bestimmen.
Dann würde ich aber einen Schritt weitergehen und sagen:
Wenn der Direktor mit seinen Regisseuren durch eine kluge und energische
Leistung es dahin bringt, daß die Kasse am Ende des Jahres
einen Überschuß hat, so soll von diesem Überschuß
dem Direktor, den Regisseuren und den vorzüglichen Mitgliedern
der Bühne eine Remuneration zugeteilt werden. Da solltet Ihr
einmal sehen, wie es sich regen und wie die Anstalt aus dem Halbschlafe,
in welchen sie nach und nach geraten muß, erwachen würde!“
Aus: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit
Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Max Hesses Verlag,
o.J.
Johann Wolfgang von Goethe (1749 -1832) |