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Tragisches Pendant zum Fidelio
Smetanas „Dalibor“ in Saarbrücken · Von
Andreas Hauff
Zu Beginn öffnet sich der Blick auf die steile, nach rechts
gebogene Auffahrtsrampe einer alten Festung. Kinder und Jugendliche
spielen hier im Schnee. Einer von ihnen hält eine Geige in
der Hand. Plötzlich fällt von hinten rechts ein Schuss,
der junge Geiger bricht tot zusammen. Uniformierte schleppen den
kleinen Körper weg; er hinterlässt eine breite Schleifspur
im weißen Schnee. Wenig später schleicht sich vorsichtig
eine größere Gruppe schwarz gekleideter Bürger abwärts
an der Festungswand entlang. Sie machen Halt an einem kleinen Grab
mit Kreuz und brennender Kerze am vorderen Bühnenrand. Während
sie Blumen ablegen, verteilt eine junge Frau Flugblätter. Die
Menschen lesen, tuscheln miteinander, werden unruhig – und
drängen mit dem Ruf „Dalibor“ die Rampe hoch. Die
Uniformierten halten sie zurück, da ertönt ein Trompetensignal.
Respektvoll und nicht ohne Hoffnung erwartet die Menge das Staatsoberhaupt.
– Die Szene ist zeitlos und zeitnah zugleich: Dem Zuschauer
kommen die NS-Zeit, die 1848er-Revolution und die jüngsten
Ereignisse in der Ukraine oder Kirgisien in den Sinn.
Eine eigenartige Atmosphäre von banger Erwartung kennzeichnet
nicht nur die Eingangsszene von Bedrich Smetanas 1865 bis 1870 entstandener
Oper „Dalibor“. Durch das ganze Werk zieht sich eine
frappierende Mischung von manifester Trauer und aufkommender Hoffnung,
von lastender Repression und aufkeimender Rebellion. Sensibel interpretiert,
so wie hier durch das Saarländische Staatsorchester unter seinem
ersten Kapellmeister Michele Carulli, ist „Dalibor“
eine meisterliche Partitur. Rapide Stimmungswechsel, kompositorisch
an Franz Liszt geschult, jagen den Hörer durch ein Wechselbad
der Gefühle, und bis zum tragischen Ausgang lässt die
Musik das Ende offen.
Torsten Fischers im Vorjahr für das Wiener Festival KlangBogen
entwickelte und von Oliver Klöter am Saarländischen Staatstheater
einstudierte Inszenierung leistet Beachtliches: „Dalibor“
ist hier eine allgemein interessierende Geschichte von Freiheit
und Unterdrückung – ähnlich wie Beethovens „Fidelio“.
Nur dass der stringente Idealismus von Beethovens „Fidelio“
dem politischen Zwielicht gewichen ist. Auch hier folgt zwar eine
tapfere Frau (Milada) dem geliebten Mann (Dalibor) als Helferin
des Kerkermeisters in Männerkleidern ins Verließ, auch
hier erscheint die Rettung nahe. Anders als bei Beethoven steht
im Hintergrund sogar eine Untergrundbewegung zur Unterstützung
bereit. Doch Dalibor ist nicht nur Opfer, sondern auch Täter.
Nach der Ermordung seines Freundes Zdenek hat er selbst einen blutigen
Rachefeldzug angetreten, der ihm nicht zu Unrecht die Kerkerhaft
einbringt. Doch während der wohlwollende, aber schwache König
Vladislav auf eine spätere Begnadigung setzt, betreiben Dalibors
Gegner, mit Budivoj, dem Chef der königlichen Wache, an der
Spitze, die baldige Hinrichtung. Dalibors und Miladas Fluchtplan
fliegt auf, und während die Aufständischen verzweifelt
losschlagen, sterben beide im Kampf.
Stärker noch als bei Beethoven wird die Musik zum Katalysator
des Freiheitskampfes: Die Musik des toten Geigers Zdenek begleitet
Dalibors Kampf und Haft, die vom alten Kerkermeister Beneš
spendierte Geige bringt neuen Lebensmut, und das Springen einer
Saite erscheint als unheilvolles Vorzeichen. Ob Erlösung auf
Erden möglich ist oder nur in einer besseren, jenseitigen Welt,
bleibt offen. Wie Zdenek dem Grab entsteigt und die tödlich
verwundete Milada und den im Kampf fallenden Dalibor aus dem Leben
hinaus ins Licht hinter der Rampe geleitet, gibt ein bewegendes
Bild. Was aus den verzweifelten Straßenkämpfern wird,
bleibt indessen offen. – Dass Dalibors ermordeter Freund Zdenek
vom Regisseur als Ziehsohn interpretiert wird, erscheint wenig zwingend,
wird aber auch szenisch nicht evident. Eindrucksvoll wirkt die vorübergehende
Aufhellung zu Beginn des zweiten Aktes, als sich das Volk vor der
Entscheidung zum Kampf noch mit einer Schneeballschlacht ablenkt
und zu Liebespaaren gruppiert.
Bühnenbildner Herbert Schäfer hat ein gleichermaßen
funktionales, aussagekräftiges und atmosphärisches Bühnenbild
geschaffen, in dem die Farben Schwarz und Weiß dominieren.
Licht- und Schatteneffekte werden sparsam, aber wirkungsvoll eingesetzt.
Dreht man die breite Auffahrtsrampe des Beginns weg, erscheint eine
dunkle Metallkonstruktion aus Wendeltreppe und Aufstiegsrampe –
die dunkle, enge Welt des Kerkers, aber auch die der politischen
Hintertreppe im übertragenen Sinn. Dazwischen gibt es nichts.
Die Menschen auf der Bühne sind unbehaust. Sogar das Militärtribunal
gegen Dalibor wird eilig im Freien auf der Rampe abgehalten. (Und
dass die uniformierten Schergen zugleich als Richter fungieren,
zeigt, dass es mit rechtsstaatlichen Verhältnissen nicht weit
her ist.) Als immerwährende Erinnerung bleibt am Bühnenrand
Zdeneks Grab zu sehen.
Michele Carullis feinfühliges Dirigat korrespondiert aufs
Beste mit der überzeugenden Personenführung. Der sprechende
Duktus der Musik, ihr fortwährendes Pulsieren und ihr zeitweises
lyrisches Innehalten, tragen die Inszenierung bis zum Schluss. Der
von Andrew Ollivant einstudierte Opernchor des Staatstheaters singt
und agiert souverän. Die Hauptfiguren erscheinen allesamt gut
besetzt. Rudolf Schaschnig gibt den Dalibor als dünnhäutigen
Kraftmenschen und findet nach etwas heiklem Anfang auch stimmlich
zu imponierender Größe. Jayne Casselman gibt eine leidenschaftliche
Milada, Tomasz Konieczny einen von Skrupeln geplagten König,
Volker Philippi einen finsteren Budivoj. Patrick Simper verleiht
dem Kerkermeister Beneš freundliche Wärme, Oxana Arkaeva
der Jitka jugendliche Emphase. Die Textverständlichkeit der
deutschen Übersetzung von Kurt Honolka ist passabel; einige
zusammenfassende Übertitel erleichtern das Verständnis
der Zusammenhänge.
Andreas Hauff
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