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Hier ist der Hades und von heute
Johannes Kalitzkes „Inferno“ in Bremen uraufgeführt
· Von Frieder Reininghaus
Aus dem Nachlass von Peter Weiss (1916–1982) stammt ein
erst jetzt veröffentlichtes Stück aus dem Jahr 1964, das
mit der Figur des aus dem Exil zurückgekehrten Dichter Dante
Alighieri spielt. Der wird mit dem durch die (diesseitige) Hölle
führenden Moderator Vergil konfrontiert und mit einem in vielen
Rollen auftretenden Theaterprinzipal sowie dessen improvisationsfreudiger
Truppe. Mit den Machthabern in der Stadt wird subtil abgerechnet,
die Schwäche des Künstlers problematisiert. Die Erinnerung
an Liebe, Literatur und Leiden im frühen 14. Jahrhundert diente
dem im schwedischen Exil lebenden Autor Weiss als Folie für
deutliche Hinweise auf die gesellschaftliche Amnesie und auf Schriftstellernöte
in der Adenauer-Ära.
Auf dem Sprechtheater könnte der recht holzschnittartige Text
heute penetrant oder sogar hochnotpeinlich wirken. Durch Johannes
Kalitzkes behutsame und plausible Reduktion und die Einbettung in
eine dominante Musik wirkt der Schwarz-Weiß-Schematismus und
die künstlich reduzierte Sprache in hohem Maß neutralisiert:
Der raschen Szenenfolge wurde eine streng konstruierte und doch
theatersinnliche, vielschichtige und aufwendige Musik zugeschrieben,
die Stefan Klingele mit den Bremer Philharmonikern zum Funkeln brachte.
Die Partitur bedeutete, wie der Dirigent erklärte, eine besondere
Herausforderung: So, sagte Klingele, sei er noch nie gefordert gewesen.
Und immerhin waren mehr als hundert Proben notwendig, um die erforderliche
Präzision zu erzielen.
Dass der aus Köln stammende, seit längerer Zeit in Wien
lebende Dirigent und Komponist Johannes Kalitzke Instinkt für
Libretti mit Brisanz besitzt, stellte er bereits mit seinem Opern-Erstling
unter Beweis: Der „Bericht vom Tod des Musikers Jack Tiergarten“,
1992 anlässlich der Wiesbadener Maifestspiele uraufgeführt,
stützte sich auf einen Text von Boris Vian. Die Kammeroper
befasste sich mit dem Drogentod eines Jazzers und wagte einen Zugriff
der höher eingestuften Musik auf tiefere Zonen. Auch das zweite
Bühnenwerk Kalitzkes bewies 1999 Gespür für ein Thema
auf der Höhe der Zeit. Die größer dimensionierte
Oper „Molière oder Die Henker der Komödianten“
nach Michail Bulgakow stellte sich einer der großen Herausforderungen
des 20. Jahrhunderts gerade für Künstler, die sich „links“
definieren: Es ging um die stalinistische Unterdrückung –
und wiederum war es auch die Problematik der Künstler, die
da mit einer vielgestaltigen und scharf konturierten Musik ausgestattet
worden war. Zum Dritten stand mit „Inferno“ nun ein
Stück Bewältigung der westdeutschen Nachkriegszeit auf
der Tagesordnung, Kritik an der nur oberflächlichen Entnazifizierung
der Nachkriegsgesellschaft, in der sich weder die Einzelnen noch
das kollektive Bewusstsein an die kurz zuvor verübten Verbrechen
erinnern wollen. Und zum dritten Mal befasst sich Kalitzke exemplarisch
mit einem Künstler, der alles andere als ein positiver Held
ist.
Auch dieses Künstlermusiktheater ist ganz überwiegend
wieder eine Männeroper (ein höherer Anteil an weiblichen
Stimmen und Aromen hätte ihr womöglich gut getan). Insgesamt
wirkt die „Inferno-Musik“ meisterhaft: wohldosierter
und weniger schrill als die zu „Tiergarten“ und „Molière“.
Das Moment der Konstruktion tritt deutlich hervor und die elektronischen
Einblendungen erweisen sich als sehr unauffällig aber effektvoll.
Mit den verschiedenen literarischen Schichten korrespondiert die
kompositorische Bemühung traditioneller musikalischer Formen
– sie erscheinen in travestierter Gestalt (ähnlich wie
in Alban Bergs „Wozzeck“). Da findet sich, durchaus
mit belcantistischen Anflügen, eine „Aria alla Scala“,
aber auch ein „Boogie“, eine „Marcha funebre“
oder eine „Valse“ mit beständigem Taktwechsel.
Manch ein Trümmer historischer Musik findet sich in neu montiertem
Kontext: Der Tonsatz weist diskrete Anklänge an die Musik Palestrinas
auf, die als Chiffre des Mittelalterlichen fungiert; die einkomponierten
Satie-Zitate verschwinden vollständig in der Lineatur der Partitur.
Die große Melancholie des Dante in der Stadt, der die Utopie
abhanden kam, klingt schließlich und ziemlich vorsätzlich
nach Brahms.
Der Regisseur David Mouchtar-Samorai präsentiert das Theater
auf dem Theater ohne drastische Exaltiertheit. Dünne gelbe
Ringe deuten so etwas wie einen „Zeittunnel“ hin zur
Gegenwart an. Die Welt des gespielten Optimismus ist die Hölle:
Ihr, die ihr eingeht, „lasst alle Zweifel fahren“. Vergil
nährt in Gestalt von Benjamin Bruns mit scharfem Tenor die
Zweifel an modernen Medien-Segnungen. Loren Lang verkörpert
den namenlosen Chef, der als Pluto und Minotaurus, auch als Unterweltbinnenschiffer
Charon, als Odysseus und in weiteren Masken auftritt; der Bariton
Armin Kolarczyk verleiht Dante die nötige Sensibilität.
Frieder Reininghaus
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