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Teutonisches Donnergrollen
„Chief Joseph“ an der Berliner Staatsoper ·
Von Frieder Reininghaus
Chief Joseph war von 1871 an Häuptling des Indianerstammes
der Nez Percés. Aufgespalten in vier Figuren – Alfredo
Daza, Meik Schwalm, Wolfgang Newerla und Georg Drexel verkörpern
den Stammesführer in verschiedenen Lebensstadien – erinnerte
Hans Zender an diesen Protagonisten nordamerikanischer Geschichte
und seinen verlorenen Kampf. Grundlage hierfür sind Teile einer
Rede, die Hin-mah-too-yah-lat-kekht („Der Donner, der über
die Berge rollt“) 1879 vor dem amerikanischen Kongress hielt.
Dieses Plädoyer wurde angereichert mit Fragmenten von Goethe,
Fernando Pessoa, Brecht, Ezra Pound und anderen – die Text-Montage
kreist in drei „Rotationen“ um die Vertreibung, Diskriminierung
und Unterdrückung der Indianer sowie um das Aufeinandertreffen
unterschiedlicher Lebensauffassungen – einer „aufgeklärten“,
in Macht- und Besitzstreben befangenen Haltung und einem transzendent-naturverbundenen
Weltentwurf. Die Spiralbewegung reicht schließlich weit hinaus:
Es soll grundsätzlich um die Verantwortlichkeit gegenüber
der Umwelt gehen, um den Kontrast von Profitstreben und Spiritualität,
Kriegstreiberei und Pazifismus – in diesem Kontext um mahnende
Erinnerung an den Abwurf der Atombomben über Hiroshima und
Nagasaki .
Wie schon die früheren Opern des Dirigenten und Komponisten
Hans Zender – „Stephen Climax“ (Frankfurt 1986)
und „Don Quijote“ (Stuttgart 1993) – erscheint
auch sein drittes großes Bühnenwerk als komplexistische
Arbeit. Generell ist Zender wohl damit befasst, sich ein eigenes
harmonisches System zu schaffen, bei dem er die Oktave in 72 Teiltöne
aufsplittet. Diese Differenzierung geht einher mit Besinnung auf
strikt metrische Formen des Musizierens, wie sie von der Minimal
Music her bekannt sind,die Kombination soll zu einer neuen „Polymetrik“
führen. Bei „Chief Joseph“ setzte Zender einige
Kostproben dieser Schreibweise als Ausstattung der Indianersphäre
ein – an Stelle von folkloristischen Zitaten.
Wie in den früheren Bühnenwerken erscheint Zenders neue
Partitur klar in Abschnitte gegliedert, in denen jeweils verschiedenartige
Schreibweisen dominieren (die Kapellmeister-Erfahrungen sind kaum
zu überhören). Ein „geschlossenes Kunstwerk“
sollte und konnte sich nicht konstituieren: Von der nicht sonderlich
musikalischen Sprache des Schlagstocks bis zu ruhig ausladender
Sopran-Kantilene, die nach unten und oben oszilliert, stattet ein
jeweils spezifischer Ton die einzelnen Szenen aus. Die Bandbreite
reicht vom bloßen Sprechen bis zum allzu harmonisch wirkenden
Indianer-Männerquartett mit feinen Schlagzeugimpulsen oder
zum O-Ton des Funkkontakts mit dem Piloten vor dem Abwurf der Bombe,
vom Tierhornruf bis zum verbeulten Big-Band-Sound. Johannes Kalitzke
animierte die Staatskapelle nach besten Kräften, um dem teilweise
spröden musikalischen Material einen Zug zum großen Ganzen
zu vermitteln. Auffällig tritt das Ajeng, ein traditionelles
koreanisches Saiteninstrument, von der Proszeniumsloge aus in Klangaktion.
Zu den eher neckischen Begleiterscheinungen der Uraufführung
gehörte der Ausstattungsentwurf eines von Indianern abstammenden
Künstlers: Jimmie Durham ließ die Bühne mit Baugerüsten
füllen und einige Gebäudefassaden durch Plastikplanen
verhängen. Riesige Werbeflächen zogen auf – für
Bier, Kino, überhaupt für den American Way of Life. Ihn
beschreitet ein junger Tourist auf der Suche nach Chief Josephs
Grab, zeigt sich engagiert für die Rechte der Indianer und
übt jene Art von Selbstkritik, die nichts kostet: „Wir
haben die Natur und eine große Kultur vernichtet.“ Peter
Mussbach führte Regie, ohne Distanz zu schaffen zu den Unsäglichkeiten
des Librettos, insbesondere zum Hiroshima-Exkurs oder zu den Klischees
von den „guten Indianern“.
Jenseits der Mythen, aus denen auch diese Indianer-Oper sich nährt:
Etliche Stämme in Nordamerika gehörten zu den großen
Naturzerstörern. Ihre Bisons brauchten weite Flächen;
also holzten sie ab (mit einer Entschuldigung vor jedem Baum, wie
man sich erzählt). Die nackte Prärie war das Resultat.
Der Komponist mit seinem Willen zur Menschheitsbesserung wäre
gut beraten gewesen, ein anderes Sujet für seine Explikationen
zu den richtigen Lebensformen zu wählen (und gäbe es noch
Dramaturgie für ein solches Projekt, hätte diese frühzeitig
beratend eingreifen mögen...). Wenn es in einer kleineren Spiralbewegung
lediglich um kritische Blicke auf Kolonialgeschichte gegangen wäre,
hätte sich vor dem Hintergrund einer geschichtslos sich ausprägenden
Neuberliner Lebensform zum Beispiel ein Stück über die
Massaker an den Hereros in Deutsch-Südwestafrika angeboten.
Empfohlener Arbeitstitel: „Generalleutnant von Trotha“.
Frieder Reininghaus
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