Zwischen Tanz und Stummfilm
Ballett-Repetitor und Filmkomponist Aljoscha Zimmermann im Gespräch
mit Malwe Gradinger
Er wurde 1944 in Riga geboren wie der vier Jahre jüngere
Michail Baryschnikow. Und er kommt ebenfalls, wie er immer betont,
„vom Ballett“. Aber das Tanzen passiert bei ihm auf
dem Klavier. Aljoscha Zimmermann ist Pianist und Komponist, im doppelten
Sinn zweigleisig. Denn er spielt einmal für Tänzer, spielt
und komponiert aber auch für tanzende Bilder – nämlich
für den Stummfilm. Und behauptet: „Ich habe das Glück,
als Filmkomponist vom Ballett zu kommen, und darauf bin ich stolz.“
Gradinger: Wie hat diese Doppelkarriere angefangen?
Aljoscha Zimmermann: Mein Vater war ein absoluter Musiknarr.
Er konnte die Sinfonien von Mozart von vorne bis hinten pfeifen.
Und er hatte schon beschlossen, dass ich Musiker werde, als ich
noch nicht einmal geboren war. Er hat Glück gehabt. Ich war
begabt und nicht abgeneigt. Ich habe in Riga die gängige Ausbildung
absolviert, von der Kindermusikschule bis zum Konservatorium. Mein
Spezialgebiet: Klavier. Und mit 25 wurde ich ans Rigaer Operetten-
und Musicaltheater engagiert. Zu meinem Aufgabenbereich gehörte
auch die musikalische Betreuung der Ballett-Einstudierungen und,
wenn nötig, auch mal als Korrepetitor einzuspringen. Wir hatten
eine sehr gute Choreografin und Ballettmeisterin, Jenina Pankrata.
Bei ihr sammelte ich meine ersten Ballettkenntnisse. Sie machte
sogar modernes Ballett – oder, was in Russland damals dafür
galt.
Gradinger: Sie kamen dann über den Umweg Israel nach
Deutschland, nach Berlin.
Zimmermann: Ja, und da habe ich intensiv mit Ballett angefangen.
Ich bin zu Gert Reinholm an die Deutsche Oper gegangen, ohne ein
Wort Deutsch zu können, und habe ihm etwas vom Blatt vorgespielt.
Nach ein paar Monaten war ich Ballett-Repetitor an der Deutschen
Oper Berlin.
Gradinger: Ein schwieriger Neubeginn?
Zimmermann: Für die Trainingsklassen zu spielen war
kein Problem. Das hatte ich ja schon in Riga gemacht. Aber die Einstudierung
von Balletten, das war für mich neu. Schwierig ist es vor allem,
wenn du hineinspringst in ein Ballett, das schon gestellt ist. Sagen
wir, es gibt eine Probe von einem Solo- oder Demi-Solo-Paar. Die
sind zum Beispiel eine Minute im Bühnenzentrum, tauchen etwas
später für 20 Sekunden wieder auf und tanzen danach noch
zusammen mit dem Ensemble. Vor mir liegt aber die Partitur von dem
ganzen Ballett. Sicher, ich kann blättern, aber ich muss genau
wissen, wo ich die betreffenden Stellen finde. Und das ist nicht
so einfach.
Gradinger: Haben Sie von Ihrer Lehrerin Tatjana Gsovsky
etwas gelernt für Ihre Art, mit Tanz umzugehen? Sie hat ja
für die damalige Zeit avantgardistische Stücke gemacht,
moderne Musiken verwendet.
Zimmermann: Tatjana war eigentlich eine Revolutionärin
in der Choreografie. Was sie in den 50er-Jahren alles so gemacht
hat! Damals schon ein Ballett mit dem Schauspieler Klaus Kinski
(in der Sprech-Rolle des Myschkin in Gsovskys „Der Idiot“
zu Musik von Henze, 1952 Berlin, Anm. der Red.). Gelernt habe ich
bei Tatjana vor allem auch viel, was die Trainings-Begleitung betrifft.
Ihr Unterricht war zwar klassisch, aber ich hatte Gelegenheit, beim
Exercice meine Erfahrungen mit moderner Musik einzubringen und auszubauen.
Gradinger: Gab es noch weitere Anregungen in Berlin?
Zimmermann: Ja, doch. Es waren nur knapp sieben, aber eben
sehr intensive Jahre. 1979 hat Valeri Panov für die Deutsche
Oper „Der Idiot“ nach Dostojewski gemacht, ein wunderbares
Ballett zu Schostakowitsch. Ich war beteiligt an der Zusammenstellung
der Musik und habe auch vom Orchester ins Piano arrangiert –
was besonders bei dem von mir bewunderten Schostakowitsch viel Spaß
gemacht hat. Er hat ja auch sehr viele Film-Musiken geschrieben.
In Russland war das übrigens ein Weg, die Zensur zu umgehen.
Verantwortlich war da nämlich der Filmregisseur und nicht der
Komponist.
Gradinger: Und wieso dann 1981 der Wechsel nach München?
Zimmermann: Konstanze Vernon, von der Tatjana schon des
öfteren erzählt hatte, war in Berlin, hat mich spielen
hören und mich daraufhin eingeladen, bei einem Ballettkurs
zu spielen, den sie in der Schweiz, in St. Moritz gab. Danach holte
sie mich an die Münchner Musikhochschule/Heinz-Bosl-Stiftung.
Gradinger: Nebenher haben Sie auch noch in Jessica Iwansons
Münchner Schule gespielt...
Zimmermann: Im Training und für ihre Choreografien,
die ich sehr schön finde. Bei ihr habe ich eigentlich gelernt,
was Modern Dance ist und wie ich diese Sprache in meine Musik transformieren
kann. Es ist einerseits das Gleiche wie bei klassischem Ballett,
und doch anders. Wie kann ich das erklären? Vielleicht so:
Jemand hat über meine Filmmusik eine Kritik geschrieben, die
absolut richtig ist: dass ich sehr geschickt Elemente von klassischer
Musik, Jazz, moderner Musik und Volksmusik vermische. Ich kann das
nicht näher analysieren, aber wenn ich eine Filmmusik schreibe,
ist da alles drin, was ich je gesehen und erlebt habe. Und ich bin
sicher, dass auch immer wieder Ideen eingeflossen sind von Balletten,
die ich irgendwann einstudiert habe. Meine Musik ist ein Amalgam
von allem. Und ich finde das schön. Ich habe keine Angst vor
dem Wort „Eklektizismus“.
Gradinger: Womit wir schon bei dem Filmkomponisten Zimmermann
wären. Wie fing das an?
Zimmermann: Schon als ich etwa sieben Jahre alt war. Ich
weiß nicht mehr, wie viele Stunden in der Schule ich geschwänzt
habe, um ins Kino zu gehen. Als ich dann 1983 oder 84 zum ersten
Mal einen Stummfilm mit Klavierbegleitung sah, wusste ich: das willst
du machen. Konstanzes Mann Fred Hoffmann hat mich schließlich
mit dem damaligen Leiter des Münchner Filmmuseums Enno Patalas
bekannt gemacht. 1988 hat er mir die Auftragsmusik zu Eisensteins
„Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) angeboten.
Bis jetzt habe ich zu ungefähr 300 Filmen die Musik geschrieben
und überall zwischen Paris und Moskau diese Filme selbst begleitet,
mit Orchester groß oder klein besetzt. 1997 hat man mich nach
Riga eingeladen, als verlorenen Sohn. Dort habe ich Fritz Langs
„Metropolis“ (1926) gezeigt, für das ich meine
zweite, eine bessere Musikversion komponiert habe. „Metropolis“
– übrigens in meiner dritten Musikversion – hat
ja auch die Auszeichnung „Kulturgut der Welt“ bekommen.
Gradinger: Filmmusik, Ballettmusik – da gibt es sicher
Parallelen beim Komponieren?
Zimmermann: Die besten Ballette sind entstanden, wenn Choreograf
und Komponist Hand in Hand gearbeitet haben. Und auch Filmmusik
ist am besten zu schreiben, wenn man selbst am Set ist: mit den
Schauspielern, mit dem Regisseur, wenn man weiß, was der will.
Beim Stummfilm bin ich jedoch immer konfrontiert mit dem schon fertigen
Werk. Andererseits habe ich auch Riesenvorteile. Wir nehmen ja nur
die Filme in Angriff, die die Zeit überlebt haben, sprich:
die gut sind. Es kann einem ja auch passieren, dass man sich mit
der Musik für ein Film-Projekt eine Riesenarbeit gemacht hat.
Wird dieser Streifen dann ein Flop, sitzt du da und bist unglücklich.
Bei uns ist es anders. Als Komponist muss man nur aufpassen, dass
man, umgekehrt, den Film nicht kaputt macht – mit schlechter
Musik.
Gradinger: Wie kommen Sie denn auf Tonalität, Klangfarbe,
Rhythmus, Tempo, Dynamik, Lyrik, Dramatik, also all die möglichen
Facetten der Musik, die ja auch ein Ballett-Komponist finden muss?
Zimmerman: Nehmen wir Paul Wegeners „Golem“.
Da gibt es mehrere Charaktere: ein Mädchen, eine Geliebte,
ein Verliebter. Da gibt es einen bösen Menschen, einen guten.
Wenn die Charaktere so unterschiedlich sind, kannst du verschiedene
Musiken machen. Ich habe übrigens wenig jüdische Musik
benutzt, weil ich diese Geschichte nicht als eine jüdische,
sondern als eine menschliche Geschichte sehen wollte.
Gradinger: Wenn Sie für einen Film aus den 20er-Jahren
komponieren, haben Sie dann Musik aus den 20er-Jahren im Ohr?
Zimmermann: Nein, ganz und gar nicht. Meine Musik soll
ja gerade die Verbindung herstellen zwischen der Ära der Stummfilmzeit
und heute. Ich bin, wie ein australischer Journalist in einem Interview
formulierte, „ein alter Erneuerer und ein ziemlich junger
Konservator“. Weil ich immer auch versuche, die Moderne einzukomponieren.
Aber ich weigere mich, eine Musik zu machen, die keine Melodie hat
– obwohl das natürlich am einfachsten wäre. Und
je älter ich werde, umso wichtiger ist mir die Melodie, im
Ballett übrigens auch. So erst kommt ein Ballett richtig rüber.
Und in meinem Gefühl wird jeder Film, für den ich komponiere,
letztendlich ein Ballett. Oder ein Musical.
Gradinger: Wenn man jetzt in München „Romeo und
Julia im Schnee“ von 1920 gesehen hat, den Sie und Tochter
Sabrina an der Geige live begleitet haben, kann man nur bestätigen:
dieser Lubitsch-Film wurde durch Ihre Musik zu Tanz.
Zimmermann: Wenn wir schon Parallelen ziehen zwischen den
Kunstformen: wissen Sie, wie viele Filme gemacht wurden? Vielleicht
Hunderte im Jahr, damals, Ende der 10er-, Anfang der 20er-Jahre.
Was wir heute kennen, ist vielleicht zehn Prozent der damaligen
Filmproduktion. Aber zehn Prozent sind doch geblieben und wecken
unser Interesse.
Gradinger: Das heißt – aufs Ballett übertragen
–, dass man auch bei Choreografien aus der ersten Hälfte
des 20. Jahrhundert durchaus noch einmal fündig werden könnte...
Zimmermann: Ein Beispiel: Dieses Jahr hat man einen Film
wieder entdeckt, „Die Frau, nach der man sich sehnt“
von 1929, mit Marlene Dietrich, von Kurt Bernhardt. Er hat nur einen
Film gemacht. Für mich ist das Filmgeschichte: die Dietrich,
unglaublich, lange vor „Blauer Engel“. Da denkt man:
das war doch nicht der Jo-seph von Sternberg, der sie entdeckt hat.
Entweder wollte er oder ihr Management nicht, dass der Film bekannt
würde. Man wollte jedenfalls offensichtlich nicht über
diesen Film sprechen. Deswegen ist er in Vergessenheit geraten.
Ich kenne alle Filme von Lang, Lubitsch, Pabst, insgesamt um die
800 Filme. Aber als ich diesen Film zu sehen kriegte, sagte ich:
„Leute, da kann man doch verrückt werden, dass dieser
Film nicht berühmt geworden ist“.
Also mir scheint es eher unwahrscheinlich, dass sich zum Beispiel
die Ballettgeschichte der 30er/40er-Jahre nur auf „Romeo und
Julia“ und ein paar andere Ballette beschränkt. Ich glaube,
dass solche Entdeckungen ähnlich wie im Stummfilm auch im Ballett
möglich sind.
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