„Es gibt keine durchgehende Linie, alles ist im Fluss, doch so ist das Leben“. Schon zu Beginn ist nur Bewegung auf der Bühne, grotesk, wenn dieselben Menschen wie auf einer Drehscheibe immer wieder durch einen ungemütlichen U-Bahnhof defilieren. Bis der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller mit Koffer (Charms’ alter ego?), im Boden versinkt und übers Dach wieder zurückkommt. Intimität wird öffentlich, wenn die Gesinnungspolizei unangemeldet eine Wohnung betritt und ein Liebespaar überrascht, um beide ohne Begründung zu verhaften. Verschlüsselte Ereignisse ohne Erklärung. Die Ereignisse sind in diesem düsteren Überwachungsstaat einfach da, verunsichern die Menschen. Also eigentlich keine Oper, sondern ein Singspiel zu einzelnen Szenen, die nur durch die Musik und die Figur des Ich-Erzählers lose verknüpft sind. Doch die mäßig moderne, freitonale Musik für kleines Ensemble bleibt deskriptiv, gibt kaum eigene dramatische Impulse, das Bühnengeschehen muss Eigendynamik entwickeln. Hier haben Regisseur Michael Scheidl von der NetZZeit in Wien und seine Frau Nora Scheidl, die gesungene Reflexionen, Sentenzen, Gedichte und Kurzgeschichten in ein symbolistisches Bühnenbild projiziert hat, optimal zusammen gearbeitet. Laufband und eine Straße ins Nirgendwo geben den Szenen eine räumliche Tiefenstaffelung, eine absurd-bedrohliche Perspektive, in der die Protagonisten wie zufällig verteilt sind und ihren Platz einnehmen. Michael und Nora Scheidl haben die Abstraktionen in Charms’ Texten mit präziser Fantasie in eine optische Gedankenlandschaft transformiert, während „die Musik zunächst und an erster Stelle ein Medium für die Sänger ist“, wie Haflidi Hallgrimsson selbst erläutert, also eine Parallelschaltung der Prosa. Allerdings mit penibel rhythmisierter Prosodie, die vom Ensemble bewundernswert exakt einstudiert worden war. Schnelle Wechsel der jeweils doppelt besetzten Gesangsparts und Echoreihungen verfehlten ihre komischen Effekte nicht. Die „Wält der Zwischenfälle“ regeneriert sich in relativ statischen Vexierbildern ohne Charaktere, Personen sind zu funktionalen Typen vereinfacht. Hervorragend waren Chantal Mathias als Geliebte Irina Mater sowie Veronika Waldner und Mario Stella in weiteren Hauptrollen. Den schwierigen Tenorpart des anonymen Ich-Erzählers als teilnehmendem Beobachter meisterte Clemens C. Löschmann mit sensibel klarer Intonation, eine unheimlich-geheimnisvolle Figur wie aus einem Roman von Franz Kafka. Schließlich wird der verdächtige Ich-Erzähler von Milizionären in eine Mülltonne geworfen und „unschädlich“ gemacht. Haflidi Hallgrimsson hat auf seltsame Weise erst im Finale das richtige Klangregister für die schwarzen Visionen des Daniil Charms gefunden. Der spontane Applaus für die Lübecker Philharmoniker, die Franz Maximilian Hube souverän dirigierte, löste die beklemmende Spannung dieses Bühnenalptraums. Wegen eines Zwischenfalls hatte sich die deutschsprachige Uraufführung der Oper „Die Wält der Zwischenfälle“ um zwölf Tage verschoben. Die Sängerin Chantal Mathias war kurzfristig erkrankt. Die penible Zeitordnung einer Premiere zerbröckelte an ihrer schwächsten Stelle, den beteiligten Menschen. Eine Ironie der Realität, wie sie Daniil Charms nicht besser hätte erfinden können. Ohne Zwischenfälle erlebte dann am 11. Februar 2004 der Komponist Haflidi Hallgrimsson aus Island und ein volles Haus im Theater Lübeck das nihilistische Charms-Universum als eigenwilliges Singspiel vom Sinn und Widersinn politischer Macht. Intendant Marc Adams konnte mit der vierten Produktion seiner erfolgreichen Reihe skandinavischer Opernpremieren seinen kulturpolitischen Kurs konsolidieren. Hans-Dieter Grünefeld |
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