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Finger weg von den Koalitionsrechten
Der Deutsche Bühnenverein, Bundes- (und Arbeitgeber-) verband
der deutschen Theater, übt sich in Schizophrenie: Während
er den Abschluss des Flächentarifvertrages „Normalvertrag
Bühne“, der die Arbeitsbedingungen der rund 20.000 Beschäftigten
im künstlerischen Bereich der Theater regelt, als „große
Leistung“, gar als „Erfolg“ feiert, fordert er
im beinahe gleichen Atemzug, als hätte bei seiner Jahresversammlung
2003 Michael Rogowski vom Bundesverband der Deutschen Industrie
im Souffleurkasten gesessen, einschneidende Änderungen des
Tarifvertragsrechts.
Unter den Stich- und Schlagworten: Flexibilisierung des Flächentarifvertrages,
Öffnungsklauseln für regionale oder betriebliche Unterschreitungen
des Tarifrechts, Ermöglichung betrieblicher Bündnisse
für Arbeit und Neuauslegung des Günstigkeitsprinzips soll
„das Tarif-Kartell in Deutschland aufgebrochen werden“,
wie es – noch deutlicher als der Bühnenverein –
CDU-Fraktionsvize Friedrich Merz formulierte. Der frühere Richter
am Bundesverfassungsgericht und Präsident des Bundesarbeitsgerichts,
Thomas Dieterich, kommentierte trocken: „Das ist eine verfassungswidrige
Idee.“
Worum geht es und wie ist der Stand der Dinge? Die Bundesrepublik
Deutschland ist ihrer Verfassung nach ein „demokratischer
und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz),
in dem „das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits-
und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ... für
jedermann und für alle Berufe gewährleistet (ist). Abreden,
die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind
nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig (Artikel
9 Abs. 3 Grundgesetz). Danach sind die „Koalitionen“
(Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände) in ihrem „Koalitionszweck“,
nämlich der Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen,
verfassungsrechtlich ebenso geschützt wie ihre „spezifisch
koalitionsmäßige Betätigung“; so hat es das
Bundesverfassungsgericht konstituiert. Funktionell, so führte
das Bundesverfassungsgericht weiter aus, gehören dabei zum
garantierten Bestand unter anderem die Tarifautonomie, die Schlichtung,
das Arbeitskampfrecht und die Betriebsverfassung. Den Eingriffsrechten
des Staates in die Koalitionszwecke seien enge Grenzen gesetzt,
insbesondere darf der Staat weder die koalitionsmäßige
Betätigung beschränken noch die Koalitionsziele durchkreuzen.
Er ist jedoch in der Lage, sachgemäße Gesetze für
die Betätigung der Koalitionen zu erlassen.
Zwei solcher Gesetze sind im Zusammenhang hervorzuheben: das Tarifvertragsgesetz
und die einschlägigen Bestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes
beziehungsweise der Personalvertretungsgesetze. § 4 Abs. 4
des Tarifvertragsgesetzes regelt, dass vom Tarifvertrag abweichende,
schlechterstellende Abmachungen auf betrieblicher oder einzelvertraglicher
Ebene nur dann zulässig sind, wenn sie der Tarifvertrag selbst
gestattet (das ist die viel genannte „Öffnungsklausel“)
oder wenn die abweichenden Abmachungen „eine Änderung
der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten“ (das
ist das „Günstigkeitsprinzip“). Um diese beiden
Sachverhalte geht es.
Eine betriebliche Abrede muss günstiger sein als die tarifvertragliche
Regelung, das heißt sie muss zum Beispiel hinsichtlich der
Entlohnung oder der Arbeitszeit den Arbeitnehmer besser stellen
als der Tarifvertrag es tut. Nur dann ist sie zulässig. Forderung
der Arbeitgeberverbände ist es aber, künftig auch Regelungen
zum – befristeten – Erhalt des Arbeitsplatzes als „günstiger“
zu werten, was die höchstrichterliche Rechtsprechung bisher
wohlbegründet nicht anerkannt hat. Längere Arbeitszeit
bei verkürztem Gehalt soll künftig eine vom Tarifvertrag
abweichende zulässige Abmachung sein, wenn die „Günstigkeit“
im Verzicht auf die betriebsbedingte Kündigung besteht.
Öffnungsklauseln gibt es in zweierlei Hinsicht. Die klassische
Öffnungsklausel, wie sie in vielen Flächentarifverträgen,
so auch im Normalvertrag Bühne enthalten ist, besagt, dass
die Tarifparteien befugt sind, von den Regelungen des Flächentarifvertrags,
seine Mindestbedingungen unterschreitend, für einen einzelnen
Betrieb abzuweichen. Die Öffnungsklausel im Normalvertrag Bühne
ist die – zumindest deklaratorische – Grundlage für
die vielen Haustarifverträge, die zwischen den Künstlergewerkschaften
und dem Bühnenverein im Interesse des Erhalts von in wirtschaftliche
Bedrängnis geratenen Theatern und ihrer Arbeitsplätze
abgeschlossen worden sind.
Die erweiterte Öffnungsklausel, beispielsweise in Tarifverträgen
im Bereich der chemischen Industrie vereinbart, verlagert die Regelungskompetenz
auf die Ebene der Betriebsvertretungen. Sie fußt auf §
77 Abs. 3 des Betriebsverfassungsgesetzes (vergleichbar §§
73-75 Bundespersonalvertretungsgesetz), der bestimmt, dass Betriebsvereinbarungen
über Arbeitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die üblicherweise
durch Tarifverträge geregelt werden, nur unter der Bedingung
zugelassen sind, „dass ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender
Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt.“ Es
muss also im Flächentarifvertrag ausdrücklich die Bestimmung
enthalten sein, dass den Tarifvertrag ergänzende oder von ihm
abweichende Abmachungen, zum Beispiel zu Entlohnungs- oder Arbeitszeitfragen,
durch Betriebsvereinbarungen erlaubt sind.
Diese zweite, erweiterte Form der Öffnungsklausel birgt die
Gefahr, die Aufgaben von Gewerkschaften und Betriebsräten zu
Lasten der Arbeitnehmerrechte zu vermengen: Betriebsräte sind
laut Gesetz zu „vertrauensvoller Zusammenarbeit“ mit
dem Arbeitgeber verpflichtet und verfügen über keinerlei
Arbeitskampfrechte. Kommentar des früheren Bundesarbeitsgerichtspräsidenten
Thomas Dieterich: „Verhandlungen über Umfang und Vergütung
von Arbeit können nicht generell konfliktfrei verlaufen. Wenn
dieses Thema in die Betriebe verlagert wird, geht die so erfolgreiche,
friedliche deutsche Kultur der Mitbestimmung kaputt.“ Und
Ex-Bundesarbeitsminister Norbert Blüm ergänzt: „Dann
muss man den Betriebsräten auch das Streikrecht einräumen.
Viel Spaß beim Häuserkampf!“ Der wäre vorprogrammiert,
sollte der Tarifvorbehalt von § 77 bs. 3 BetrVG modifiziert
oder gar abgeschafft werden. BDI-Präsident Michael Rogowski
träumte bereits öffentlich vom „Lagerfeuer“,
in das er alle Tarifverträge und alle einschlägigen Gesetze
hineinwerfen könne.
Den Startschuss für diese Geisterfahrt rund um’s Lagerfeuer
gab Bundeskanzler Gerhard Schröder, als er im März 2003
in seiner „Agenda 2010“ den Tarifparteien gesetzgeberische
Maßnahmen für den Fall androhte, dass sie sich nicht
„entlang dessen, was es bereits gibt – aber in weit
größerem Umfang – auf betriebliche Bündnisse
einigen, wie dies in vielen Branchen bereits der Fall ist.“
Damit konnten nur die Öffnungsklauseln gemeint sein, die die
konkrete Tarifgestaltung den Betrieben überantworten.
Die Opposition ließ sich nicht lumpen: Im Juni 2003 brachte
sie den Entwurf eines „Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts“
in den Bundestag ein, dessen Ziele Friedrich Merz so beschrieb:
„Die Betriebe u u sollen das Recht bekommen, ohne Interventionsrecht
der Funktionäre in den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften
eigenständige betriebliche Regelungen zu treffen.“ Zwei
Drittel des Betriebsrates und der Belegschaft sollen durch Abstimmung
den jeweiligen Flächentarifvertrag innerhalb seiner Laufzeit
abändern können, ohne Beteiligungsmöglichkeit der
Tarifparteien. „Pacta sunt servanda – Verträge
müssen eingehalten werden,“ meint hierzu Thomas Dieterich.
„Das ist die Basis der Rechtssicherheit. Abweichungen können
nur die vereinbaren, die den Vertrag geschlossen haben, also hier
die Verbände.“
Die Ausweitung des Günstigkeitsprinzips findet sich im Gesetzentwurf
der Opposition ebenso wie das Recht der Betriebsparteien, vom Tarifvertrag
abweichende „Vereinbarungen für Beschäftigung“
treffen zu können. „Unter dem Etikett, es gehe nur um
betriebliche Ausnahmen“, um nochmals Thomas Dieterich zu zitieren,
„soll das grundgesetzlich verankerte Tarifsystem ausgehöhlt
werden.“
Tarifverträge wären künftig nur noch Optionen, von
denen bei Willfährigkeit oder Schwäche von Betriebsräten
beliebig abgewichen werden könnte. Tarifverträge verlören
auch ihre Ordnungsfunktion, sowohl ihre wettbewerbliche als auch
ihre innerbetriebliche. Ist es denn auszuschließen, dass die
Gewerkschaften ihrerseits die normativen Bestimmungen der Tarifverträge
kündigen würden, wenn sie sich mit dem drohenden Ende
der Tarifautonomie konfrontiert sähen? Nicht nur in den Opernhäusern
würde organisatorisches Chaos ausbrechen.
Aber auch im „Alltag“ würde eine Verlagerung der
Tarifverhandlungen auf die Betriebsebene erst dann funktionieren,
wenn entweder die Beschäftigten keiner Koalition, also keiner
Gewerkschaft angehören, mithin nicht tarifgebunden sind, oder
wenn der Gesetzgeber nicht nur das Tarifvertrags- und das Betriebsverfassungsgesetz,
sondern auch gleich das Grundgesetz dahingehend ändert, dass
das Grundrecht der uneingeschränkten Koalitionsfreiheit und
des Koalitionszwecks für den Gesetzgeber dispositiv wird. Denn
andernfalls würden natürlich die Gewerkschaften ihre Mitglieder
auch auf der betrieblichen Ebene angemessen vertreten und deren
Interessen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen
oder zu verteidigen wissen. Autoritäre Staatssysteme haben
daher immer schon entweder die Gewerkschaften zu staatsnahen Erfüllungsgehilfen
gemacht oder sie schlicht aufgelöst.
Genug der auf der Wand er scheinenden feurigen Schriftzeichen.
Im Immanuel Kant-Jahr 2004 sollte vernünftige beste Zwecksetzung
an die Stelle von steinzeitlichen Drohgebärden treten. Der
Müller von Sanssouci würde hinzufügen: „Es
gibt noch Richter in Karlsruhe.“
Stefan
Meuschel
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