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Blühen abseits der Wahrnehmung
Tage der neuen Chormusik in Aschaffenburg · Von Ines Stricker
Rund 100 Tagungsteilnehmer aus der ganzen Bundesrepublik, etwa
220 erwachsene Chorsängerinnen und Chorsänger und 150
Mitglieder der Kinder- und Jugendchöre – der Arbeitskreis
Musik in der Jugend (AMJ) zog eine positive Bilanz aus seinen „Tagen
der Neuen Chormusik“, die vom 30. Oktober bis zum 2. November
in Aschaffenburg zum ersten Mal stattgefunden haben. Neben einer
Präsentation der AMJ-Chöre war vor allem Breitenwirkung
angesagt. Denn es profilieren sich zwar mittlerweile zahlreiche
hoch ambitionierte Chöre aus dem Laien- und semiprofessionellen
Bereich auf dem Gebiet der Neuen Musik. Aber in der gesamten Chorszene
mit ihren knapp zwei Millionen aktiven Sängerinnen und Sängern
ist Zeitgenössisches derzeit noch zu schwach vertreten, wie
Kurt Suttner moniert. Der Gründer und Leiter des auf Neue und
Neuste Musik spezialisierten via-nova-chors München hat als
Beirat des AMJ die „Tage der Neuen Chormusik“ initiiert.
Ziel des Festivals ist ein alle zwei Jahre sich bildendes Forum,
in dem Schul-, Kirchen- und sonstige Chorleiter auf avancierte Kollegen
treffen, Austausch pflegen und, so Suttner, „frei von der
Leber weg diskutieren“ können.
Zu diskutieren gab es in Aschaffenburg genug. Öffentliche
Proben der konzertierenden Chöre wechselten sich ab mit Vorträgen
über die Entwicklung des Chorgesangs im 19. und 20. Jahrhundert
und seinen Bezug zur jeweiligen zeitgenössischen Musikszene
(Clytus Gottwald, Stuttgart) oder über die Notationsformen
zeitgenössischer Chormusik (Raimund Wippermann, Düsseldorf).
Die neue Literatur verlangt von den Sängern schon einiges an
stimmlicher Beweglichkeit, Offenheit für alles Neue und theoretischen
Kenntnissen. Anforderungen, die viele Chorleiter außerhalb
der professionellen und semiprofessionellen Szene zunächst
einmal abschrecken. Besonders instruktiv waren daher die so genannten
Reading-Sessions, in denen die Teilnehmer die von kleinen Ensembles
vorgestellte Musik von der Bitonalität über Zwölftönigkeit
bis hin zu Geräuschklängen mitlesen und zum Teil auch
mitsingen konnten.
Eine weitere Aufgabe des AMJ ist es, Komponisten und Chöre
zusammenzubringen, so dass in der Zusammenarbeit neue, auch für
Laien singbare Werke entstehen. Als Beispiel wurden als Auftragswerk
Thomas Jennefelts „Gesänge am ersten Abend des Krieges“
uraufgeführt, entstanden für den Kammerchor Saarbrücken.
Der schwedische Komponist hat als Anlass für sein nur aus Vokalisen
bestehendes und dadurch um so unmittelbarer ansprechendes Werk die
Situation kurz vor dem letzten Irakkrieg genommen. Kollektive Fassungslosigkeit,
unterdrückte Angst und Resignation prägen die in Aschaffenburg
uraufgeführten Sätze „Lamento“, „Wiegenlied“
und „Elegie“. Möglicherweise ist es als Zeichen
für eine neue Suche nach Aktualität in der Chormusik zu
werten, wenn sich ein Komponist in seinem Werk mit der aktuellen
politischen Lage auseinander setzt.
Viel Aufmerksamkeit erregte auch das ins Aschaffenburger Programm
integrierte AMJ-eigene Projekt „Komponisten schreiben für
Kinder- und Jugendchöre“, denn schließlich findet
die musikalische Prägung vor allem im Kindesalter und in der
Pubertät statt. In einer Gesprächsrunde diskutierten Veranstalter,
Dirigenten, Komponisten, Besucher und Chorteilnehmer über die
vier am Vorabend uraufgeführten, höchst unterschiedlichen
Werke. Unter ihnen stachen vor allem die sieben Nonsense-Gesänge
nach Gedichten von Ernst Jandl hervor, die der griechische Komponist
Minas Borboudakis für den Münchner Kinderchor Viva Vocina
geschrieben hat. Borboudakis verschonte die Sängerinnen und
Sänger im Alter von 9 bis 13 Jahren weder mit Summflächen,
Clustern oder Sprechpassagen noch mit graphischer Notation –
und hatte damit Erfolg. „Am Anfang haben die Kinder gesagt
„Au, das ist ganz verrückte Musik“, aber wenn sie
gehört haben, wie das klingt, waren die völlig dabei“,
erzählt Borboudakis aus seinen Probenerfahrungen mit dem Chor.
Das übrige Konzertprogramm schlug einen großen Bogen
über das 20. Jahrhundert: Die Eröffnung übernahmen
Profis, das SWR Vokalensemble unter Gary Graden, das Renaissancemusik
im Wechsel mit zwei der zahlenmäßig raren Chorsätze
von Wolfgang Rihm sang; den Beschluss machten Alfred Schnittkes
ungeheuer klangintensive „Bußverse“ aus dem Jahr
1988. Fast noch archaischer und stärker am Sprachrhythmus des
Textes orientiert wirkte Günter Bialas‘ 1961 entstandenes
zentrales Chorwerk „Im Anfang“ über die Schöpfungsgeschichte
in der Übertragung von Martin Buber, gesungen vom Münchner
via-nova-chor unter Kurt Suttner. Der stimmlich und schauspielerisch
hervorragende Mädchenchor Hannover von Gudrun Schröfel
und der Konzertchor Darmstadt mit Wolfgang Seeliger als Dirigent
hatten es mit einem Programm, das beim Nestor der Neuen Musik Arnold
Schönberg begann und mit einem Werk des 1960 geborenen Hans
Schanderl endete, dagegen auf einen Querschnitt angelegt. Und schließlich
gab es auch noch ein Late-Night-Konzert mit der auf Avantgarde setzenden
„SCHOLA Heidelberg“ und (tatsächlich, Instrumentalisten!)
dem ensemble aisthesis unter Walter Nussbaum.
Klar wurde bei den ersten „Tagen der Neuen Chormusik“
in Aschaffenburg vor allem eins: Die Chorszene blüht und gedeiht,
nur leider immer noch zu weit abseits der öffentlichen Wahrnehmung.
Welche Möglichkeiten gibt es für eine bessere Außenwirkung
für den Chorgesang? Georg Grün, Leiter des hervorragenden
Amateurensembles Kammerchor Saarbrücken, der den Glauben ans
Geldverdienen mit Neuer Musik realistischerweise längst aufgegeben
hat, fasste nach der Uraufführung des Jennefelt-Werks in der
nicht eben üppig besetzten Aschaffenburger Stadthalle seine
Erwartungen so zusammen: „Wenn der Raum voll ist in zwei Jahren,
dann haben wir schon was erreicht.“
Ines
Stricker
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