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Ein Meister mit vielen Aufgaben
Die Funktionen eines Ballettmeisters · Von Malve Gradinger
„Maître de ballet“ – eine Bezeichnung,
die noch umschwebt ist von dem Parfum des 17. und 18. Jahrhunderts.
Als die Herren noch Perücken und Jabots trugen und die „Meister
des Balletts“ noch Alleinherrscher waren über ein Ensemble.
Natürlich auch mit allen Pflichten und Sorgen. Sie choreografierten
die Einlagen in den Opern, beziehungsweise die Ballettabende, studierten
diese auch selbständig ein. Manchmal hatten sie sogar noch
selbst die Musik zu liefern. Das tägliche Training, die Proben,
der Probenplan und auch das Administrative, all das oblag dem „Ballettmeister“.
Erst ab etwa der 50er-Jahre begann sich dieser Über-Job allmählich
in seine verschiedenen Funktionen aufzuteilen, aber auch nur entsprechend
der Größe des Ensembles. Zunächst also vorwiegend
an den größeren Häusern, wo mit über 50 Tänzern,
einer steigenden Zahl von Ballettabenden und einem vielfältigen
Repertoire zwischen Klassik und Moderne die Arbeit nicht mehr von
einer Person allein zu bewältigen war.
Aufteilung der Aufgaben
Den Ballettmeister gibt es immer noch. An der Spitze steht jedoch
jetzt der Ballettdirektor, der im günstigsten Fall auch noch
Choreograf ist. Beispiel John Neumeier, der in erkämpfter Unabhängigkeit
von der Hamburgischen Staatsoper sogar zum Ballett-Intendanten seines
Hamburg Balletts aufrückte. Beispiel Uwe Scholz in Leipzig
und Youri Vamos in Düsseldorf/Duisburg. Wenn der Direktor nicht
selbst choreografiert, ist er es, der Ballette einkauft, Gastchoreografen
für Kreationen einlädt, den Spielplan zusammenstellt,
Tänzer engagiert, Besetzungen bestimmt. Hat er genügend
Know-how, studiert er wohl auch selbst Klassiker ein. Coacht seine
Solisten vor allem in den Rollen, die er selbst getanzt hat. Es
stehen ihm jedoch für solche Aufgaben – je nach Finanzlage
des Ensembles – Mitarbeiter zur Seite. Im Bayerischen Staatsballett
teilen sich zum Beispiel zwei Fachkräfte die Positionen von
Öffentlichkeitsarbeit, Produktion und Dramaturgie, sind gleichzeitig
als stellvertretende Direktoren entscheidungsberechtigt in Abwesenheit
des Ballettchefs und bringen bei Planung und Entschlüssen ihr
Wissen, ihre Erfahrung ein.
Verlängerter Arm des Ballettdirektors
Was hat nun heute der Ballettmeister zu tun? Im Allgemeinen ist
er verantwortlich für die Aufführungsqualität. Der
Ballettmeister fungiert als eine Art Nachpolierer des Choreografen,
insbesondere, was das Corps de ballet betrifft: die Auftritte der
Gruppe, die Abgänge, die oft so komplizierten Formationen,
das Zusammenspiel mit den Solisten. Dieses ganze geometrische Gefüge
muss exakt räumlich und präzise in der Musik geprobt sein,
aber auch in seiner stilistischen und damit atmosphärischen
Besonderheit. Kopf- und Armhaltungen in dem rein klassischen „Dornröschen“
(1890) sind puristisch klassisch, in der romantischen „Giselle“
(1841) viel weicher, eben romantisch fließend aufgelöst.
Bei dem postmodernen William Forsythe, der das neo-klassische Vokabular
verschrägt und sogar zertrümmert, sind Ansatz und Qualität
der Bewegung, die gesamte Linienführung wieder eine völlig
andere. Kauft ein Ensemble ein schon fertiges Stück eines Choreografen
ein, kommt er zwar selbst kurz vor der Premiere für den finalen
Schliff. Die Einstudierung, die durchschnittlich zwei bis vier Wochen
in Anspruch nimmt, besorgt jedoch sein Ballettmeister.
Lehrer und Psychologe
So einfach, wie sich das anhört, ist das jedoch beileibe
nicht für diesen einstudierenden Gast. Sogar von Choreografen
weiß man, dass sie sich in einem fremden Ensemble –
besonders bei einer Kreation – ausgesetzt und unsicher fühlen.
Sie arbeiten deshalb am liebsten mit eigenen Tänzern, zu denen
in langen Jahren ein Vertrauensverhältnis entstanden ist. „Wenn
ich komme, ist ja die choreografische Arbeit schon getan. Trotzdem
bin ich in einer neuen Compagnie zu Beginn immer nervös“,
sagt Hans Knill, der im vergangenen November im Bayerischen Staatsballett
„Bella Figura“ und „Sechs Tänze“ von
Jirí Kylián einstudierte. Der gebürtige Schweizer,
jetzt freischaffend, aber von 1973 bis letzte Saison Ballettmeister
des Nederlands Dans Theaters (NDT) und Kylián-Experte, hat
in langen Jahren einen Instinkt entwickelt – und seine persönlichen
Strategien. „Wenn ich in den Ballettsaal komme, merke ich
sofort, ob ein Tänzer sich vielleicht querlegen will. Zu Beginn
mache ich kleine Witze, kleide die Korrekturen sozusagen ein. Gegen
Ende, wenn wir unter Zeitdruck stehen, werde ich dann schon härter...
Aber wenn ich Persönlichkeiten auseinander nehme, allzu hart
werde, dann kann es auf der Bühne auch schief gehen.“
Ein gewisses psychologisches Einfühlungsvermögen –
wie in allen „lehrenden“ Tätigkeiten – scheint
also die Grundvoraussetzung für das Erarbeiten der Choreografie.
Fotografisches Gedächtnis, Tanz-Notation,
Video
Während früher die Ballettmeister praktisch das ganze
Ballett im Gedächtnis gespeichert haben mussten, sich höchstens
mit eigenen Notizen halfen, sind heute die Video-Aufzeichnung und
die von einem Choreologen gelieferte hochkomplexe Notation eines
Balletts enorm hilfreiche Stützen. „Im NDT hatten wir
keinen Choreologen“, gesteht Knill. „Hier in München
jetzt Cherie Trevaskis zur Seite zu haben, ist natürlich von
großem Vorteil. Sie schreibt alles mit.“
Cherie Trevaskis’ Handwerksmaterial ist die in den 50er-Jahren
von dem britischen Ehepaar Rudolf und Joan Benesh entwickelte Benesh-Notation.
Eine Zeichenschrift, die dem musikalischen Notensystem ähnelt.
Statt Noten-Zeichen gibt es Symbole für jeden Körperteil,
jede veränderte Körper-Position und jede räumliche
Bewegung, die entsprechend dem zeitlich-musikalischen Ablauf in
die fünf Linien eingezeichnet werden. Eine irrsinnige Geduldsarbeit:
Um nur eine kurze Schrittfolge festzuhalten, bei der sich ja nicht
nur Beine und Füße, sondern auch Kopf, Arme, Hände
bewegen, braucht es so gut wie ein ganzes Notenheft. Der Vorteil
ist allerdings unschätzbar. Denn da, wo das Video flächig
oder zu dunkel ist, also die Choreografie ungenau wiedergibt, ist
die Notation uhrwerkspräzise. Und große Ensemble-Formationen
mit 30 oder gar 60 Tänzern lassen sich mit dem Video-Film gar
nicht mehr erfassen. Überdies befähigt die Notation, auch
schon einem einzelnen Gruppentänzer, der neu dazukommt oder
auch nur einspringt, seinen Part isoliert einzustudieren.
Die Erinnerung ist trügerisch. Zum anderen kann es sein, dass
man die zweite oder dritte Version erinnert. Denn: Ballette werden
von ihrem Schöpfer ja auch immer wieder geändert. „Grundsätzlich
gehe ich mit Hilfe des Videos immer auf die erste existierende Version
zurück“, erklärt Knill. „Aus Respekt vor dem
Choreografen. Es sei denn, Kylián überlässt mir
die Verantwortung, ein Stück allein auf die Bühne zu bringen.
Dann entscheide ich mich für die Version, die mir die bessere
erscheint. Als Kylián sein ‚Bella Figura’ dem
Ballett der Pariser Oper einstudierte, hat er einiges auf diese
technisch überragenden Tänzer hin umchoreografiert. Diese
Schrittfolgen fand ich einfach interessanter und habe sie in die
NDT-Version hineingenommen. Aber ich passe auf, dass ich meine Grenzen
wahre. Man muss als Ballettmeister auch immer wieder zurücktreten.“
Als „zweite Besetzung“ bezeichnet Knill sich bescheiden,
der dem „Genie Kylián“ zuarbeitet. Scheint aber
doch seinen Beruf zu lieben, denn schließlich studiert er
weltweit und auch immer noch im Nederlands Dans Theater Kylián-Stücke
ein.
Ballettmeister als Coach
Da, wo die Arbeit des Ballettmeisters über die Einstudierung
der Schritte hinausgeht, wo er mit den Solisten an jedem Schritt,
jeder Geste feilt, immer aus dem Inhalt und Gehalt der Rolle heraus,
wird er zum Coach. Im St. Petersburger Kirow-Ballett zum Beispiel
hat jede erste Solistin ihren eigenen Coach, eine ehemalige Ballerina,
die jede neue Rolle minutiös über Monate hin mit ihr erarbeitet.
So viel persönlichen Luxus kann man aus finanziellen Gründen
anderen europäischen Tänzern nicht zukommen lassen. Im
Allgemeinen leisten Ballettmeister, vor allem Gäste, auch die
subtile Coaching-Arbeit.
Bewahrer choreografischen Erbes
Aus solchen Ausführungen geht hervor, entgegen Knills eigener
Demut, dass der Ballettmeister so „zweitrangig“ nicht
ist. Erst recht nicht, wenn er zum Bewahrer von choreografischem
Erbe wird. Karin von Aroldingen, die einzige Deutsche, die in George
Balanchines berühmtem New York City Ballet Karriere machte,
hat von dem Meister einige Ballette geerbt und ist offizielle Ballettmeisterin
für den „Balanchine Trust“. Eine Institution, die
seine Ballette gegen hohe Honorare vergibt – aber nur an Ensembles,
die technisch-tänzerisch dem Trust-Maßstab entsprechen
–, und dann auch über die Einstudierung verfügt.
„Es gibt in dem Trust etwa zwei Dutzend ehemalige Tänzer/-innen
mit einem großen Balanchine-Repertoire. Und die bekommen jeweils
vom Trust ihre Aufgaben“, erklärte von Aroldingen, als
sie letzte Saison Balanchines „Brahms-Schönberg-Quartett“
mit dem Bayerischen Staatsballett einstudierte. Für die Münchner
Tänzer natürlich besonders fruchtbar, mit einer Muse Balanchines
zu arbeiten, die nicht nur jede Geste technisch präzise zu
vermitteln weiß, sondern mit Erinnerungen an Proben, Korrekturen
und Vorstellungen auch die Ära Balanchine authentisch wachrufen
kann.
Der Trainingsmeister – künstlerischer
Förderer
Die fest an den Theatern angestellten Ballettmeister (bis zu vier
in großen Ensembles) geben in den meisten Fällen auch
das tägliche Training. Werden beide Bereiche getrennt betreut,
so könnte man unterscheiden zwischen Probenleiter und Trainingsmeister.
Und tatsächlich sind es zwei im Grunde unterschiedliche Qualifikationen
erfordernde Berufe, die sich meist aus persönlichen Neigungen
ehemaliger Tänzer ergeben. Der Probenleiter ist dafür
zuständig, dass ein Ballett in seiner bestmöglichen Gesamterscheinung
auf die Bühne kommt, während der Trainingsmeister dafür
sorgt, dass jeder Tänzer im Ensemble seine bestmögliche
Form erreicht: hinsichtlich Präzision, Kraft, Ausdauer, Schwierigkeitsgrad
der Schritte und Sprünge und schließlich auch tänzerischer
Linie. Dass jeder Trainer, entsprechend eigener Begabung und Vorlieben,
so seine ganz persönlichen Schwerpunkte setzt, ist menschlich,
also die Regel.
Ein Trainer muss dosieren können. Sind die Tänzer mitten
in intensiven Proben, gar für zwei oder drei Ballette, oder
stehen sie kurz vor der Premiere eines für sie ganz neuen Werkes,
sollte das morgendliche Training nicht das letzte an Kraft aus den
Tänzern herausholen, sie eher schonend behandeln. Es gibt begabte
Trainer, deren Übungen den Körper wie eine Massage aufwärmen
und dennoch in Form bringen.
Der Trainer als Psychologe und Inspiration
Aber nicht nur die physische Kondition der Tänzer muss der
Trainer erkennen und berücksichtigen – bei Überarbeitung,
nach einer Verletzung et cetera –, sondern er muss sich auch
in die psychische Verfasstheit der Tänzer einfühlen. Ein
Normal-Sterblicher kann keine Vorstellung davon haben, was ein Tänzer
körperlich und auch psychisch leistet. Morgendliches Training,
die Wiederholung von Schrittsequenzen in den Proben – bis
zur Erschöpfung – plus die abendliche Vorstellung, das
ist im Kraftaufwand vergleichbar mit dem Pensum eines Grubenarbeiters.
Zusätzlich steht der Tänzer unter ständigem Leistungs-
und Konkurrenzdruck. Wenn er morgens in den Ballettsaal geht, fühlt
er sich oft von den Anstrengungen des Vortages wie erschlagen. Und
das Training, dieses Wachmachen des Körpers, das er eigentlich
liebt, kann wie eine körperliche Bestrafung wirken. Es kann
aber auch, wenn es gut ist, neu inspirieren und die noch im Körper
steckende Müdigkeit, die Muskelschmerzen vollständig vergessen
machen.
Deshalb laden große Ensembles, die es sich leisten können,
auch immer wieder berühmte Gast-Trainer für ein, zwei
Monate ein. Eine andere Art des Trainings, neue Schrittkombinationen,
eine neue Persönlichkeit, das gibt den Tänzern einen neuen
Auftrieb.
Ballett-Pädagoge
Pädagogische Fähigkeiten müssen alle haben, die
mit Tänzern umgehen. Der Ballett-Pädagoge ist jedoch noch
einmal ein Beruf für sich. Er gibt kein Training, sondern Unterricht.
Und der ist, auf der Grundlage eines durchdachten achtjährigen
Ausbildungsplanes, jeweils auf den Jahrgang abgestimmt, der dem
Pädagogen gerade anvertraut ist. Die jungen Körper dürfen
nicht überfordert, die Mädchen nicht zu früh auf
Spitze gestellt werden. „Aber unsere Studenten lernen das
Ballettvokabular nicht mehr, wie früher Kinder das ABC gelernt
haben. Schritte, Körperhaltung, Musik, das wird alles zusammen
unterrichtet, im Einklang miteinander. Tanz muss sprechen“,
sagt Konstanze Vernon, Leiterin der Heinz-Bosl-Stiftung, die als
Staatsballettchefin von 1989 bis 1998 ja auch die Bedürfnisse
und Probleme der professionellen Tänzer zu bewältigen
hatte. „Im Unterschied zu den Profis stehen die Studenten
noch nicht unter dem hohen Leistungsdruck. Kindern muss man Bewegung
eher bildhaft erklären. Und selbstverständlich ist man
immer auch Psychologe, der vor allem versuchen muss, den jungen
Tänzer zur richtigen Balance zwischen Selbstkritik und Selbstvertrauen
zu führen.“ Eine Balance, um die ein Tänzer sein
Tänzerleben lang ringen muss.
Malve
Gradinger
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