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Und was machen Sie tagsüber?
Der männliche Tänzer im Spiegel der Zeit · Von Malve Gradinger
Im Anfang war der Tänzer und dann erst die Tänzerin. Eine historische Realität, auch
wenn sie heute nicht gerade politisch korrekt klingt. Der männliche Tänzer stand im Zentrum bei den
Festen und Unterhaltungen der Renaissance-Aristokratie wie auch im höfischen Ballett Ludwigs XIV. Der Sonnenkönig
selbst tanzte oft die Hauptrollen. Und es tanzten, kostümiert in Seide, Samt, Rüschen und Federschmuck,
seine Prinzen und Edelmänner. Erst im 19. Jahrhundert, mit der Entwicklung des Romantischen Balletts, rückte
die Ballerina in den Mittelpunkt, und der Ballerino wurde mehr und mehr degradiert zu ihrem stützenden,
hebenden, tragenden Anbeter und Diener. Eine Wende trat erst ein mit Diaghilews Ballets Russes in den ersten
Jahren des 20. Jahrhunderts. Seine Tänzer, Ausnahmekünstler wie Waslaw Nijinsky, lenkten die Aufmerksamkeit
zurück auf den männlichen Tänzer. Aber wieder wurde er reduziert auf den vor allem dienstbereiten
Schatten der fragilen Protagonistin auf Spitze bis zur Ankunft 1961 des russischen Ballerinos Rudolf
Nurejew im Westen. Durch seine Gestaltungskraft, seinen sich behauptenden Narzissmus und sein außergewöhnliches
Charisma verlieh er dem Tänzer erneut Bedeutung, Glamour und überraschende Popularität. Nurejew
eroberte buchstäblich dem tanzenden Mann auf internationaler Ebene die Bewunderung, Wertschätzung
und Fan-Euphorie eines breiten Publikums. Und machte so auch den Beruf des Tänzers erstrebenswert für
junge Männer zudem ein Stück weit respektabler in den Augen von skeptischen Eltern.
Für die meisten Väter war der Tänzerberuf, wenn es den eigenen Sohn betraf, tabu. Und blieb
es für viele auch noch fast bis in unsere Tage. Die Gründe sind hinlänglich bekannt: die diffuse
Angst vor einem Klima, das man als homosexuell vermutete. Im Bewusstsein des Normalbürgers hatte sich das
Klischee festgesetzt, dass Ballett ein weiblicher Beruf sei und dass Männer darin automatisch eine homosexuelle
Neigung haben müssten (Fakt ist: in einem Ballettensemble findet sich die gleiche Mischung sexueller Ausrichtungen
wie in jedem anderen, auch nicht- künstlerischen Unternehmen. Im Bayerischen Staatsballett sind die älteren
Mitglieder meist verheiratet, einige haben bereits Kinder). Außerdem die Sorge um die finanzielle Sicherheit:
die Tänzerlaufbahn ist generell mit 30, spätestens 35 beendet. Von Ausnahmefällen, meist unter
den Solisten, abgesehen. Dann stehen die Tänzer vor dem Nichts. Und bis zu dieser Stunde Null verdiente
ein Tänzer in der Vergangenheit, verglichen mit Gehältern anderer Berufe, äußerst wenig.
Da hat sich einiges zum Besseren geändert. Zwar bewegen sich Tänzer der freien Szene weiterhin in
einem existenziell prekären Raum, finanzieren immer noch ihre Berufung Tanz mit diversen Nebenjobs.
Aber Tänzer, die an einem Stadt- oder Staatstheater engagiert sind, können heute von ihrem Beruf leben.
Die Grundvergütung für Anfänger (an einem Haus der Gagenklasse1a in den alten Bundesländern)
beträgt brutto 2.959 Mark zuzüglich Ortszuschlag. Nach dem Anfängerjahr erhält ein Gruppentänzer
3.945 Mark. Mit Leistungspauschalen und Sondervergütungen sowie mit von der Beschäftigungsdauer abhängigen
Zulagen erhöht sich die Grundgage um durchschnittlich weitere 1.200 Mark. Solistengagen werden jeweils
ganz unterschiedlich ausgehandelt. Diese Existenzgrundsicherung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten dazu
geführt, dass die Ballettakademien die nie Mangel an Studentinnen hatten endlich einen merklichen
Zulauf von männlichen Bewerbern verzeichnen konnten.
Trotzdem haben Tänzer noch immer einen schlechten Stand, in Anbetracht der ungeheuer harten Arbeit, die
sie dafür leisten was dem Normalbürger nicht bewusst ist. Fast jeder Tänzer wird einmal
in seiner Laufbahn naiv gefragt: Und was machen Sie tagsüber? Der Tag sieht wie folgt aus:
morgens um 10 Uhr Training, dann Probe, Pause, wieder Probe in dringenden Fällen auch zeitlich über
die gewerkschaftliche Regelung hinaus. Plus eine beträchtliche Anzahl von Abend-Vorstellungen. Ein Arbeitstag
also, der oft von 10 bis 23 Uhr dauert. Dieses Pensum beansprucht genauso stark wie Hochleistungssport, wenn
nicht stärker. Dabei warten Tänzer immer noch auf jene so wichtigen (aber eben kostspieligen) Verletzungs-vorbeugenden
Bewegungstherapie-Programme, wie sie für Sportler seit langem selbstverständlich sind. Und Sport,
vor allem der kommerziell vermarktbare, ist, wie man weiß, hochdotiert. Tänzer sind schon deswegen
völlig unterbezahlt, sagt Stefan Erler, langjähriges Ballettensemble-Mitglied der Bayerischen
Staatsoper und seit 1990 Leiter des dortigen separat-eigenständigen Opernballetts, weil der Beruf
so früh zu Ende ist, sie aber von ihrem schmalen Gehalt nichts zurücklegen können für die
Zeit nach dem Bühnenabschied. Hinzu kommt, dass dieser Beruf einen so in Anspruch nimmt, dass keine Zeit
und Kraft übrig ist, nebenher noch etwas zu studieren, das als Basis für einen neuen Beruf dienen
könnte. Zwar kämen theoretisch zumindest alle Tänzer, die 15 Jahre an einem
Haus engagiert waren, in den Genuss der Unkündbarkeit. Die meisten werden aber termingerecht zwei Jahre
vorher gekündigt, notwendigerweise, da die Stellen für jüngere Tänzer frei gemacht werden
müssen.
Trotz der psychischen Belastung Verletzungen und Zwangspausen gehören auf schmerzhafte Weise zum
Alltag des Tänzerberufs , trotz der nicht üppigen Gagen, erlebten die Ausbildungsstätten
wie auch die Ballettensembles der Theater in den 80er- und 90er-Jahren im Vergleich zu früher
so etwas wie einen Männerboom. Und nun plötzlich ein Tief. Ein Männermangel. Gerade wirbt die
Münchner Heinz-Bosl-Stiftung für ihre Ausbildungsklassen, unter anderem in Ballettzeitschriften und
in den Ballett-Programmheften der Bayerischen Staatsoper unter dem Titel Kinder sehr erwünscht!!!
Die Bosl-Stiftung sucht Talente. Um sich noch besser auf die Mangel-Situation einstellen zu können,
versucht man klugerweise Ursachen zu ergründen. Fred Hoffmann von der Bosl-Stiftung meint, dass die jungen
Männer heutzutage lieber schnelles Geld machen, womöglich an der Börse, statt eine achtjährige
Ballettausbildung auf sich zu nehmen. Er hofft allerdings, dass die von der Bosl-Stiftung geförderte Ballettakademie
(der Münchner Staatlichen Hochschule für Musik, so der korrekte Titel) durch hervorragende Pädagogen
wie den Russen Alexandre Prokofief demnächst gute männliche Neuzugänge bekommen wird. Die Nachwuchssorgen
der Akademien haben ihre Fortsetzung in den Ballettensembles. Anfragen zum Vortanzen haben wir viele,
immer zwischen 100 und 200, sagt Wolfgang Oberender, stellvertretender Direktor des Bayerischen Staatsballetts.
Aber unsere Anforderung an Technik und körperliche Proportionen sind sehr hoch gesteckt, was die
Auswahl dann letztendlich sehr begrenzt.
Bei den modernen Tanzensembles sieht die Sache offensichtlich ganz anders aus. Wir haben überhaupt
keine Probleme, männliche Tänzer zu bekommen. Im Gegenteil., sagt Jan Adamiak, Dramaturg und
rechte Hand von Tanzchef Philip Taylor am Münchner Gärtnerplatztheater. Ich glaube, das liegt
einfach daran, dass die jungen Leute heute nicht mehr diese Hierarchie einer klassischen Compagnie (Gruppe,
Vortänzer, Halbsolist, Solist, Erster Solist; die Red.) durchhalten wollen. Sie wollen gleich denken, mitdenken,
sich selbst in einer Choreografie ausloten. Sie gehen direkt nach der Schule ins Engagement, mit 16, 18, also
in einer Phase der Identitätssuche. Und bei uns wird ihnen auch der Einstieg nicht so schwer gemacht.
Womit Adamiak darauf verweist, dass auch ein Spätstarter im Tanz Studiumsbeginn erst mit 15 zum
Beispiel in einer modernen Compagnie durchaus noch Chancen hat. Und was ganz wichtig ist,
fügt er hinzu, es herrscht ein Manko, Talente überhaupt mal zu entdecken. Alan Brooks zum Beispiel,
ein Engländer aus der Londoner Rambert School, der seit 1998/99 bei uns tanzt, ist ein Naturtalent. Tänzermaterial
ist genügend vorhanden. Nur, man muss es auch sehen können.
Die Hierarchie nicht durchhalten wollen das war auch für Sabry Ghalem-Cherif, Absolvent des renommierten
Conservatoire national supérieur de danse de Marseille, der Grund, warum er sein Engagement im Ballett
der Pariser Oper löste und ans Bayerische Staatsballett wechselte. Ich bin klassisch ausgebildet,
möchte auch in einem klassischen Ensemble tanzen. Die Hierarchie an der Pariser Oper war mir jedoch zu
starr. Alexis Forabosco, Absolvent des Pariser Conservatoire national supérieur de danse et de
musique, kam aus den gleichen Gründen, mit den gleichen Hoffnungen wie sein Landsmann letzten Herbst nach
München. Die beiden Franzosen betonen, dass sie nicht in einer modernen Compagnie engagiert sein möchten,
dass sie bewusst das klassische Ballett gewählt hätten. Es ist diese strenge Disziplin, die
Klarheit dieser Tanzsprache, die fasziniert. Aber wir haben gezielt ein repräsentatives Ensemble mit gemischtem
Repertoire gesucht.
Anders als zum Beispiel das Ballett der Pariser Oper und das Londoner Royal Ballet, Elite-Ensembles, die sich
erst in den letzten Jahren sparsam ausländischen Tänzern Stars vor allem öffnen
(man erinnere, wie Rudolf Nurejew, einige Saisons Gast-Attraktion, wieder hinauskomplimentiert wurde), waren
und sind die deutschen Ballettensembles immer noch international besetzt. Im Bayerischen Staatsballett mit 68
bis 70 Mitgliedern machen die deutschen Tänzer 20 Prozent aus. 80 Prozent kommen aus Amerika, Australien,
China, England, Frankreich, Holland, Italien, Kuba, Neuseeland, Rumänien, Russland, Schweiz und Tschechien.
Das schafft internationales Flair, entspricht auch unserer ständig Grenzen sprengenden Zeit. Es ist allerdings
auch eine bittere Aussage über das deutsche Tanzverständnis. Denn wenn Deutschland in den 50er- bis
70er-Jahren mangels Ausbildungsmöglichkeiten keine oder nur wenige qualifizierte Tänzer hervorgebracht
hat, gibt es seitdem neben den älteren Tanz-Institutionen in Köln und Frankfurt ja eine John-Cranko-Schule
in Stuttgart, die John-Neumeier-Schule in Hamburg, die von der Bosl-Stiftung gestützte Ballettakademie
München, die Leipziger Ballettschule unter Professor Uwe Scholz und die jüngst von der Stuttgarter
Ex-Ballerina Birgit Keil geleitete Mannheimer Akademie.
Wenn man bedenkt, dass Deutschland offensichtlich dank seiner ererbten vielen Theater auch mehr
kreative, zum Teil international renommierte Choreografen beheimatet als die meisten anderen europäischen
Länder: William Forsythe, John Neumeier, Uwe Scholz, Youri Vámos, Pierre Wyss, Martin Schläpfer,
Bernd Schindowsky, Ben van Cauwenberg und zahlreiche in die moderne Richtung gehende Tanzschöpfer, dann
kann man nur beklagen, dass es in diesem reichen Land so wenig Tänzernachwuchs gibt. Ist es Prüderie?
Eine verdeckte Körperfeindlichkeit? Ein intellektueller Dünkel? Das materialistische Denken? Dies
alles Lebenseinstellungen, die kaum ein gutes Licht auf Deutschland werfen. Sicherlich müsste für
einen Berufswechsel nach Ende der aktiven Laufbahn gesorgt werden, für eine bessere Lebensabsicherung.
Aber ebenso müsste man Kinder, vor allem Jungs und viele wollen tanzen! zu einer Ausbildung
ermutigen.
Malve
Gradinger
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