Was haben im Zirkus der Feuerschlucker und die Gehaltsbuchhalterin gemein-
sam? Betriebspolitisch wenig; im ungünstigsten Fall betrachtet der Feuerschlucker die Buchhalterin eher
als Handlangerin der Direktion denn als Kollegin. Berufspolitisch überhaupt nichts; wenn der Feuerschlucker
beruflichen Rückhalt benötigt, dann sucht er ihn zunächst beim Gewerk der Artisten, dem die Buchhalterin
gewiss nicht beitreten wird.
Branchen- und sozialpolitisch aber sind sehr wohl gemeinsame Interessen vorhan-
den: Beide könnten sich für ein zirkusfreundliches Kultur-Klima engagieren und für menschenwürdige
Arbeitsbedingungen auch im Zirkus. Und beiden könnte vermittelt werden, dass es, um diese Ziele
zu erreichen, mehr bedarf als des persönlichen und berufsverbandlichen Engagements. Gefordert ist dann
die Solidarität der Gewerke aller Lohnabhängigen.
Berufsverband und Gewerkschaft dieser zweistufige Organisationsansatz so-
wohl in der Symbiose wie im Konflikt durchzieht die deutsche Gewerkschaftsgeschichte seit dem Vormärz des
19. Jahrhunderts, als die Association der Zigarren-Arbeiter Deutschlands die organisatorische Zusammenarbeit
mit dem aus dem Allgemeinen Deutschen Buchdrucker-Verein hervorgegangenen Gutenberg-Bund
begann.
In den Kunst- und Medienberufen mit ihren ausgeprägten Arbeitsteilungen und
auch intellektuellen Spezialisierungen war und ist der berufsverbandliche Organisationsansatz besonders
ausgeprägt. Und in kaum einer Branche ist der berufsverbandliche Organisationsgrad so hoch,
die Zahl der Berufsverbände so groß. Rund 220 Kulturverbände führt das Handbuch des Deutschen
Kulturrates auf, von denen knapp die Hälfte jedenfalls die berufsverbandlichen, oft auch die sozialen,
wirtschaftlichen und kulturellen Interessen ihrer Mitglieder vertritt. Rund neun Millionen Personen repräsentiert
der Deutsche Kulturrat.
Unter den mit Organisationsmüdigkeit begründeten Auszehrungserscheinun-
gen, wie sie bei manchen Großorganisationen zu verzeichnen sind, leiden die Berufsverbände noch am
allerwenigsten. Zwar haben auch sie sich auf das veränderte Organisationsverhalten der jüngeren Generation
einzustellen, die sich eher für konkrete Projekte als für dauerhaftes Engagement begeistern lässt,
doch sind sie andererseits immer noch in der Lage, der Mitgliedschaft gegenüber bedarfsgerecht zu handeln.
Sie sind klein genug, um in ihren Organisationsabläufen durchschaubar zu bleiben, und sie sind mit den
jeweiligen Berufen vertraut genug, um individuell fachlich und rechtlich betreuen und informieren zu können.
Ihre Integration in die größeren Einheiten der deutschen Gewerkschaftsbewegung
darf daher unter keinen Umständen zur Folge haben, dass sie ihre berufsverbandliche Anziehungskraft verlieren
und Einbußen an ihren den Mitgliedern geschuldeten Leistungen erleiden. Selbstständigkeit so weit
als nötig, Einbindung und Kooperation so weit als dann noch möglich, kann da die Devise nur lauten.
Ein Vorwurf mangelnder gewerkschaftlicher Solidarität ginge ins Leere, da weder Gewerkschaften noch ihre
Organisationsstrukturen Selbstzweck sind, sondern sich tagtäglich und in der Praxis durch den Willen der
Mitglieder legitimieren müssen. Solidarität ist keine Strukturfrage.
Vor solche Probleme sehen sich weder sehr große Berufsverbände wie der Deut-
sche Journalistenverband (DJV) gestellt, der zugleich selbstständige und nicht dem DGB angehörende
Gewerkschaft ist, noch zum Beispiel der Berufsverband Bildender Künstler (BBK), der eigenständiger
Berufsverband und nicht Gewerkschaft sein will. Wohl aber stellt sich die Frage für die VdO, die
obwohl auch selbstständige Berufsgewerkschaft wie der DJV seit ihrer Gründung korporatives
Mitglied in der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) war. Die DAG ist in der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft
ver.di aufgegangen, der Eingliederungsvertrag zwischen DAG und VdO wirkt bis Juli 2002 nach. Die Bundesdelegiertenversammlung
hat Bundesvorstand und Geschäftsführung beauftragt, mit ver.di Verhandlungen mit dem Ziel aufzunehmen,
eine den Interessen der Opernchor- und Tanzgruppenmitglieder dienliche Zusammenarbeit zu vereinbaren.
Ihr
Stefan Meuschel
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