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Kulturpolitik

Mißstände im Opernchorwesen

Ein Interview mit dem Kölner Opernchordirektor Albert Limbach

Musikpädagogischer Notstand

Seit PISA haben wir es schwarz auf weiß: Deutsche Kinder werden schlecht ausgebildet! Die Studie hat uns das geruhsame Weihnachtsfest verleidet. Schwarz müssen wir unsere Zukunft sehen, die von schlecht auf das Leben vorbereiteten jungen Menschen gestaltet werden soll.

Ob die Inhalte, die hier abgefragt wurden, nicht wenigstens einer Diskussion würdig sind, ob der panikartige Aktionismus, der dem Bekanntwerden der Studie auf den Fuß folgte, nicht einer etwas „ruhigeren Hand“ bedarf, wie ernst wir die erschreckenden Ergebnisse nun wirklich nehmen müssen, sei dahin gestellt. Fest steht – und die Musikpädagogen wissen es schon lange – : Die Situation der musikalischen Bildung in Deutschland hat bereits die Notstands-Grenze unterschritten. Der Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen geht rapide zurück, so dass Kinder, die nicht im Elternhaus mit der sogenannten klassischen Musik Bekanntschaft machen, häufig keine Chance haben, diese genießen oder sogar selbst auszuführen zu lernen. Musikschulen müssen immer aufs Neue darum kämpfen, nicht dem Rotstift des städtischen Kämmerers zum Opfer zu fallen. Die Musikhochschulen bilden immer mehr junge Musiker für eine ungewisse Zukunft aus und stellen sich in ihren Studieninhalten nicht ausreichend auf die Realitäten der zukünftigen Berufsausübung ein.

Diese Situation veranlasst die Redaktion von „Oper & Tanz“, sich künftig verstärkt dieses Themas anzunehmen. Zum Auftakt haben wir uns mit Albert Limbach, dem Chordirektor der Bühnen der Stadt Köln, unter anderem über die Ausbildung junger Sängerinnen und Sänger an den deutschen Musikhochschulen unterhalten. Im Anschluss informieren wir über die Vielfalt der Arbeit städtischer Musikschulen. Die Reihe wird fortgesetzt.

Oper&Tanz: Herr Limbach, in den Opernchören der Musiktheater Deutschlands ist die Zahl der zu besetzenden Stellen seit 1991 um rund acht Prozent auf 3.275 geschrumpft, bedingt durch Theaterauflösungen und -fusionen sowie durch Chorverkleinerungen. Dennoch herrscht Nachwuchsmangel, vor allem bei tiefen Alten, bei Bässen und Tenören. Wieso?
Albert Limbach: Weil an den Hochschulen nicht gezielt Opernchorsänger ausgebildet werden (bis auf wenige Ausnahmen). Die Gesangslehrer müssten den geeigneten und interessierten Studenten klar machen, dass der Beruf des Opernchorsängers dem des Solisten ebenbürtig ist. Ich halte die Eitelkeit vieler Gesangslehrer („Mein Schüler wird Solist!“) für den Hauptgrund des Nachwuchsmangels. Die Lehrer sollten den Mut haben, für das Solofach nicht geeigneten Schülern die Illusion einer Solistenkarriere zu nehmen. Solche Schüler stattdessen für den Chorsängerberuf zu motivieren, wäre eine dringende Pflicht der Gesangslehrer.

O&T: Rund 40 bis 45 Prozent der Opernchorsänger kommen aus nicht-deutschen Sprachräumen (bis Mitte der Achtzigerjahre vor allem aus den USA, England und den so genannten Ostblockstaaten, seither zunehmend auch aus dem fernen Osten). Weshalb?
Limbach: In ihren eigenen Ländern gibt es nur eine Hand voll Opernhäuser. Folglich ist dort wenig Bedarf an Opernchorsängern. Natürlich kommen auch viele Ausländer nach Deutschland in der Hoffnung, ein Soloengagement zu finden, aber sie fühlen sich nach meinen Eindrücken keineswegs minderwertig, wenn sie schließlich doch eine Anstellung im Chor finden.

O&T: Wird im Ausland besser beziehungsweise zielgerichteter ausgebildet oder spielen soziale oder soziokulturelle Gesichtspunkte eine Rolle?
Limbach: Soweit ich an verschiedenen Theatern erfahren habe, ist die Ausbildung von Ausländern meist hervorragend; Beispiele: Korea und Polen. In Polen gibt es allerdings, wie ich jetzt von einem unserer polnischen Chormitglieder hörte, erst seit etwa zwei Jahren auch Chorklassen an den Hochschulen. Früher wurden dort nur Solisten ausgebildet.
Bestimmt spielen soziokulturelle Gesichtspunkte eine Rolle. Auffällig ist die hohe Anzahl stimmlich wie musikalisch ausgezeichneter koreanischer Sänger. Eine gezielte Chorsängerausbildung gibt es in Korea angeblich nicht. Die Hochschüler müssen nur im Hochschulchor mitsingen. Das wärmere Klima (vergleichbar Italien) und die Mentalität (man singt und tanzt sozusagen „aus dem Stand“, wenn man sich trifft) tragen gewiss dazu bei, dass es dort mehr Sänger als in den meisten europäischen Ländern gibt.

O&T: Inklusive Solisten besteht an den deutschen Musiktheatern ein jährlicher Nachwuchsbedarf von rund 160 Sängern (ZBF). Rund 300 ausgebildete Sängerinnen und Sänger aber verlassen jährlich die Musikhochschulen und Konservatorien (zuzüglich der „privat“ Ausgebildeten). Laut ZBF finden von den jährlich 300 Absolventen nur rund zehn Prozent, also 30 dauerhaft ihren Arbeitsplatz im Berufsgesang (Solo, Konzert, Opern-, Rundfunkchöre). Was wird aus den anderen?
Limbach: „Ihr Schicksal würde zu beklagen sein“, möchte ich frei nach Belmonte in Mozarts „Entführung“ antworten. Einige versuchen, sich durch Unterrichten von Gesangsschülern über Wasser zu halten. Andere streben nach Möglichkeit wenigstens eine Mitwirkung in Extrachören an.

O&T: Auf eine ausgeschriebene Chorstelle bewerben sich grob durchschnittlich bei den 1a/1b-Bühnen zwischen dreißig und vierzig Sänger, bei den 2a-Bühnen rund zwanzig, bei den 2b-Bühnen rund zehn. Welche Rolle spielen hierfür die unterschiedlichen Vergütungen oder aber die künstlerischen Positionen der größeren Bühnen?
Limbach: Ich nehme an, dass beides eine Rolle spielt. Da an kleineren Theatern oft wesentlich mehr Dienst anfällt und die Verantwortung des einzelnen Chormitglieds in einem kleinen Chor größer ist, dürfte es meines Erachtens dort keine geringere Vergütung geben.

O&T: Nur lyrische Soprane sind in ausreichender Zahl vorhanden. Was ist der Grund, weshalb – neben den schon seit langem fehlenden ersten Tenören und „schwarzen“ Bässen – jetzt auch die anderen Stimmgruppen „Mangelware“ werden?
Limbach: Die Frage kann wohl eher ein Gesangslehrer beantworten. Ich glaube aber, dass im Grunde der Ersatz des Singens durch passive Beschäftigung mit Musik (Konsumieren statt Musizieren) im Kindesalter ausschlaggebend ist.

O&T: Sind etwa die künstlerischen Anforderungen an den Chorsänger (Regietheater, Anspruchsniveau wie Solo, zeitgenössische Musik) schneller gestiegen als das Ausbildungsniveau?
Limbach: Ganz gewiss! Aber da können Fleiß und gute Führung durch engagierte Chordirektoren und Spielleiter vieles wettmachen.

O&T: Entspricht die Ausbildung an den Hochschulen und Konservatorien den Anforderungen der Praxis?
Limbach: Das wage ich zu bezweifeln. Chorpraxis ist etwas anderes als Solopraxis. Welcher Solist singt in der Nachmittagsvorstellung Operette und am Abend große Oper? Ich habe selber vor vielen Jahren mit dem Opernchor in Karlsruhe erlebt: nachmittags „Boccaccio“ (das heißt eine große Choroperette), abends Verdis „Otello“ (auch nicht gerade eine Kammeroper für den Chor!). Auf derartige Belastungen müsste hingearbeitet werden.

O&T: Ist die Universitätsstruktur der Ausbildungsstätten (Semester, verbeamtete Lehrkräfte et cetera) zeitgerecht?
Limbach: Hochschultätigkeit ist mir leider verwehrt geblieben in meiner langen Laufbahn als Chordirektor (immerhin 35 Jahre); daher kann ich das nicht beurteilen.

O&T: Ist dem „Y-Modell“ (zum Beispiel vier Semester allgemeine Ausbildung, dann partielle Trennung in Chor- und Soloklasse) oder dem „Parallel-Modell“ (von vornherein Chor- und Soloklasse mit gewissen Durchlässigkeiten) oder dem „Einheits-Modell“ (alle Studierenden werden gleich, auch im Chorgesang ausgebildet) der Vorzug zu geben?
Limbach: Von den drei Modellen höre ich zum ersten Mal. Ich glaube, es wäre sinnvoll, während der viersemestrigen allgemeinen Ausbildung zu sondieren, ob Chor- oder Solokarriere anzustreben ist; das heißt: Y-Modell. Und dann gezielte Ausbildung!

O&T: Wer unterrichtet „Chor“?
Limbach: Sinnvollerweise nicht nur Gesangslehrer, sondern auch Chordirektoren, denke ich.

O&T: Wer unterrichtet „Profi-Chor-Leitung“? Was begründet die unqualifizierten Aussagen, „beim Chordirektor habe es zum Dirigenten“, „beim Chorsänger habe es zum Solisten nicht gereicht“?
Limbach: Es gibt nur wenige Chordirektoren, die tatsächlich ein volles Chordirektorstudium hinter sich haben. Ich hatte das Glück, von 1958 bis 1961 eine regelrechte Berufschorleiterklasse an der Kölner Musikhochschule zu besuchen und mit der Chorleiterprüfung abzuschließen. Solche Klassen müssten von praktizierenden Chordirektoren geleitet werden, schon wegen der Verbindung zum Theater, wo die Studenten zum Beispiel mit den Problemen bei Bühnendiensten konfrontiert würden.
Als ich mich vor einigen Jahren hier an der Kölner Musikhochschule um die entsprechende vakante Professur bewarb, sagte mir der damalige Rektor nach einem sehr positiven Gespräch: „Aber Sie sind zu alt für eine Beamtenposition“. Man gab die Stelle lieber einem jungen Bewerber mit null Erfahrung. Jeder weitere Kommentar ist da überflüssig!
Tatsächlich sind viele amtierende Chordirektoren „verhinderte Kapellmeister“. Wer stünde nicht gern im Rampenlicht? Die Tätigkeit des Chordirektors findet sozusagen „im Verborgenen“ statt, das heißt hinter der Szene. Der Wert der reinen Chordirektortätigkeit gegenüber dem Dirigenten sowie der Chorsängertätigkeit gegenüber dem Solisten wird nicht anerkannt.

O&T: Gibt es aussagefähige Untersuchungen über die Werdegänge der Chordirektoren?
Limbach: Sind mir nicht bekannt.

O&T: Weshalb ist der Korrepetitor, einst „Kerntruppe“ jedes Musiktheaters, in der Theaterhierarchie derart abgestürzt?
Limbach: Unbegreiflich! Die Leistung der Korrepetitoren wird völlig unterbewertet. Die Behandlung der Korrepetitoren durch manche Regisseure bei Bühnenproben ist desavouierend. Die Dominanz des Regietheaters spielt dabei bestimmt eine große Rolle.

O&T: Welche Auswirkungen hat die sich bis in „die Provinz“ verbreitende Gepflogenheit, alle Werke in der Originalsprache zu singen? Verschwindet auch deshalb ein Teil des deutschen Repertoires vom Spielplan?
Limbach: Ich könnte mir denken, dass wegen des hohen Anteils nicht deutschsprachiger Solisten das deutsche Repertoire in den Hintergrund geraten ist. Es ist halt peinlicher für ein deutsches Publikum, ungenügend sprechende Solisten in deutschen Werken zu hören als zum Beispiel schlecht sprechende Solisten in französischen oder russischen Opern.

O&T: Hat sich die Arbeitsvermittlung bewährt? Sollten die Chorvorstände (beziehungsweise der Chorsänger-Berufsverband) sich auf diesem Feld engagieren?
Limbach: Durchaus!

O&T: Ist die Vergütung der Chordirektoren und der Chorsänger (auch in Relation zum Orchester) angemessen? Hängt der Nachwuchsmangel, der trotz des „Überangebots“ an Hochschulabsolventen zu verzeichnen ist, mit der Vergütungsproblematik zusammen?
Limbach: Ich glaube schon. Der Vergleich zwischen der Tätigkeit eines Orchestermusikers und eines Chorsängers während einer Opernaufführung ist problematisch. Die Musiker spielen den ganzen Abend, von der Basstuba und Ähnlichem einmal abgesehen, der Chor hat manchmal nur einige Auftritte, muss sich aber mehrmals – manchmal in Windeseile – umziehen, muss auswendig singen in diversen Sprachen und auf der Bühne agieren, teils in abenteuerlichen Stellungen. Die Vergütung kann in diesem Beruf nicht nach Stunden, sondern muss nach Anforderung und Leistung bemessen werden.

O&T: Ist das von VdO und DBV strukturierte Vergütungssystem richtig, das „Aufstiege“ nur auf dem Weg vom kleinen zum großen Theater und durch die so genannte „Dienstalterszulage“ ermöglicht? Ersteres aber erfordert „familienfeindliche“ Mobilität.
Limbach: Fragen über Chorvergütungen sollten die Chorvorstände beantworten.
Die Mobilität muss nicht familienfeindlich sein. Ich bin bei jedem Wechsel mit meiner Familie umgezogen – immerhin fünfmal mit Kindern. Es hat unseren Söhnen nicht geschadet, im Gegenteil: Der Horizont wurde erweitert.

O&T: Der immer wieder anzutreffende „Frust“ im Chor hängt auch mit der – insbesondere an kleinen Mehrspartenhäusern – unbefriedigenden hierarchischen Stellung des Chordirektors und des Chores zusammen. Aber selbst an größeren Häusern, in denen der Chordirektor nicht als „musikalisches Mädchen für alles“, das Chormitglied nicht als Edelkomparse ge-/missbraucht wird, sind oftmals Stellung und Ansehen des Opernchores unbefriedigend. Was sind die Gründe hierfür?
Limbach: Stellung und Ansehen des Opernchores hängen meines Erachtens von der Leistung und – dafür vorausgesetzt – Motivation durch den Chordirektor ab. Wesentlich verantwortlich für die Unterbewertung oder gar Ignoranz der Leistung des Chordirektors und seines Chores ist die mangelnde Werbung. Auf den Plakaten großer Opernhäuser – bis vor wenigen Jahren auch der Wiener Staatsoper zum Beispiel – fehlt oft der Name des Chordirektors. Bei Rundfunkübertragungen, auch von den Konzerten, heißt es: „Es sang der Chor X, es spielte das Orchester Y unter der Leitung von ...“ Die Choreinstudierung, obwohl äußerst zeitaufwändig und für den Erfolg maßgeblich, wird unterschlagen.

O&T: Wie sollte das Verhältnis Chordirektor/Musikalische Leitung sein? Haben Chordirektoren und Chorvorstände den ihnen zukommenden – mitwirkenden – Einfluss auf Spielplan, Choreinsatz et cetera?
Limbach: Das Verhältnis Chordirektor/Musikalische Leitung wäre besser, wenn der GMD – wie es früher üblich war – hauptsächlich im Hause wäre und sich nicht nur um seine eigenen Stücke kümmerte, sondern um den gesamten musikalischen Betrieb. Heutzutage sind Absprachen zwischen Chordirektor und Dirigent über Details einer Einstudierung oft nur per Telefon oder Fax möglich. Trotz Klausel im Vertrag werden die Chordirektoren meist vor vollendete Tatsachen gestellt, was den Spielplan und die Disposition betrifft.

O&T: Was könnten/sollten die Chöre tun, soweit Missstände, Fehlentwicklungen et cetera zu verzeichnen sind, dem abzuhelfen?
Limbach: Sie sollten, vertreten durch ihre Chorvorstände, im Einvernehmen mit der Chordirektion mutig Stellung beziehen und von den Verantwortlichen in der Bühnenleitung Beseitigung von Missständen fordern und daran mitwirken, Fehlentwicklungen zu verhindern. Eine rechtzeitige Konsultation könnte viel Ärger und Frust ersparen.
O&T: Herzlichen Dank, Herr Limbach, für dieses Interview.

Die Fragen stellte Stefan Meuschel

 

Albert Limbach

Geboren am 8. August 1937 in Bonn. 1961, nach dreijährigem Studium in der Berufschorleiter-Klasse der Musikhochschule Köln, Abschluss mit der Chorleiterreifeprüfung; 1964 Kapellmeisterreifeprüfung am Mozarteum Salzburg. Über Lüneburg, Bonn und Bremerhaven führte ihn sein Berufsweg an die Deutsche Oper Berlin, an der er von 1972 bis 1977 als Stellvertreter Walter Hagen-Grolls wirkte. Chordirektor war er von 1977 bis 1982 am Badischen Staatstheater Karlsruhe, von 1982 bis 1987 an der Hamburgischen Staatsoper, von 1987 bis 1992 am Nationaltheater Mannheim. Seitdem leitet er den Opernchor der Bühnen der Stadt Köln.

Bibliografie: Quint-Essenz. Kaleidoskopische Betrachtungen eines Intervalls (1986); Die Kunst reiner Intonation. Studien zu unbegleitetem Solo- und Chorgesang in Oper und Konzert (Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 1980).

 

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