Rezensionen
50 Jahre Ballett John Neumeier
50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Bilder einer Ära, hrsg. von Hamburg Ballett John Neumeier, Henschel Verlag, Leipzig, 2022, 256 Seiten, 330 s/w und Farbabbildungen, ISBN 978-89487-840-5, 49 Euro
Unbestritten zählt John Neumeier (*1939) zu den ganz großen Choreografen des 20. und 21. Jahrhunderts: Im Stuttgarter Ballett beginnt er 1963 als Corps-Tänzer unter John Cranko und fällt hier schon mit kleinen eigenen Choreografien auf. Von dort wird er wenige Jahre später als jüngster Ballettchef nach Frankfurt verpflichtet. Steil geht die Karriere des jungen Tanzkünstlers in Hamburg weiter. Der findige August Everding, damaliger Intendant der Hamburgischen Staatsoper, verpflichtet ihn 1973 als Leiter der Ballettcompagnie und schreibt in seinem Vorwort für den Bildband zum zehnjährigen Jubiläum Neumeiers: „Ich sah einen großen Choreografen am Werk, einen dramaturgischen Geschichtenerzähler, einen Ästheten und einen Genauigkeitsfanatiker, einen philosophischen Kopf, dem das Theatralische nicht abging.“ In den folgenden Jahrzehnten begleiten namhafte Autoren wie Horst Koegler kommentierend die verschiedenen Lebens- und Schaffensphasen von John Neumeier. Herausragend ist die von Wolfgang Willaschek herausgegebene Publikation „20 Jahre John Neumeier und das Hamburg Ballett“ zu nennen.
50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Bilder einer Ära, hrsg. von Hamburg Ballett John Neumeier, Henschel Verlag
Mit den Jahren gelingt Neumeier eine leise Erneuerung seiner Kunst, insbesondere des Handlungsballetts. Seine Compagnie erlangt Weltruhm, und Hamburg wird ganz nebenbei zur Tanzstadt. Nach 50 Jahren „Hamburg Ballett“ ist er weltweit der dienstälteste Chef einer Compagnie.
Nun also erscheint ein neuer Bildband zur letzten Spielzeit von Neumeier in Hamburg. Ambitioniert sollen 50 Jahre auf 256 Seiten rückblickend beleuchtet werden. Einleitend erklärt Neumeier, dass er sich vor allem für bildliche Darstellungen entschieden hat. Die Texte sind folglich auf ein Minimum reduziert und sollen nicht interpretieren: „Lassen wir die Stille der Bilder für sich sprechen.“ Vielleicht war er ja auch der Ansicht, dass bereits alles gesagt ist.
In fünf Kapiteln entsprechend den fünf Jahrzehnten seiner Zeit in Hamburg gliedert sich der Band. Neben Marianne Kruuse kommen Christoph Albrecht, Gigi Hyatt, Wladimir Urin, Brigitte Lefèvre und Kent Nagano in kurzen Statements zu Wort, nicht zu vergessen ein Grußwort von Ex-Bürgermeister Olaf Scholz.
Die Auswahl der 330 schwarz-weißen und farbigen Fotos, vor allem deren zum Teil assoziative Aneinanderreihung, lassen oft Lücken im dramaturgisch roten Faden erkennen: So stehen sich Bühnenfotos von ein und demselben Theaterstück aus verschiedenen Aufführungsjahren direkt gegenüber. Da es sich aber nicht um die gleichen Szenen- beziehungsweise Bildausschnitte handelt, kann der Betrachter zu wenig einsehen, warum diese Beispiele gegenübergestellt wurden. Dass Neumeier bei seinen Neueinstudierungen des gleichen Stückes stets sehr intensiv und individuell mit jedem Tänzer gearbeitet hat, erschließt sich aus dem Gezeigten leider nicht.
Weiter werden in unterschiedlichen Formaten und Größen fotografisch festgehaltene Tanzszenen auch mal über zwei Buchseiten gedruckt. Sie sollen auf den Betrachter ohne weitere Beeinflussung wirken. Die Auswahl scheint aber trotz ihrer hohen künstlerischen Qualität manchmal einfach nur beliebig.
Allein bei den Abschnitten „Meine Highlights“ gibt es zu jedem Jahrzehnt Bilderstrecken, die mit wenig Text diese für Neumeier wichtigen Stationen anschaulicher machen sollen. Ergänzt durch teils sehr private Aufnahmen von Galas, Preisverleihungen, Ehrungen oder auch nur Reisedokumentationen wirken sie wie einem persönlichen Tagebuch entnommen. Gerne hätte man dazu mehr erfahren, vielleicht auch die ein oder andere Anekdote.
So bleibt der Eindruck, dass der neueste Bildband zum Karriereende von Neumeier als Direktor des „Hamburg Ballett“ seiner großen Reputation und seinen unbestrittenen choreografischen Verdiensten zu wenig gerecht wird. Außerdem sind 49 Euro ein stolzer Preis für eine willkürliche Auswahl aus der privaten Schatzkiste. Wer mehr über diesen großen Geschichtenerzähler des Tanzes erfahren möchte, sollte in Bibliotheken oder Antiquariaten nach den älteren Veröffentlichungen suchen.
Beatrix Leser |