Berichte
Ausweitung des Ringgebiets
Steffen Schleiermachers und Gregor Zölligs „Siegfried – eine Bewegung“ in Braunschweig
Kompositionsaufträge für Tanz-Produktionen mit größerem Orchester sind derzeit eher selten. Stattdessen erklingt zu Tanz oft Musik vom Band. Oder Choreografien nutzen gattungsspezifische Evergreens von Satie bis Glass, Live-Musik für Mini-Besetzungen oder Neukompositionen auf Basis von Improvisationen. Nicht nur der Auftrag für eine über einstündige Tanz-Partitur an Steffen Schleiermacher (geb. 1960), den Leipziger Komponisten, Pianisten und Leiter der Gewandhaus-Reihe Musica Nova, durch das Staatstheater Braunschweig ist demzufolge ungewöhnlich, sondern auch dessen konzeptioneller Rahmen.
Im Vordergrund. Fenia Chatzakou. Foto: Ursula Kaufmann
Unter dem Projekttitel „Ausweitung des Ringgebiets“ verzichtete man am Theater Braunschweig auf eine herkömmliche Produktion der insgesamt vier Teile von Richard Wagners Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“. Im Oktober gelangte der Vorabend „Das Rheingold“ in der Inszenierung von Operndirektorin Isabel Ostermann zur Premiere. Ab 16. März 2023 spielt man anstelle von Wagners „Die Walküre“ als Schauspiel-Uraufführung „Die Walküren“ von Caren Jeß. Das Substitut für „Siegfried“ bildete im November ein Beitrag des Tanztheaters unter Gregor Zöllig: „Siegfried – eine Bewegung“, für die Schleiermacher die Musik schrieb. In der original erklingenden „Götterdämmerung“ (Premiere am 3. Juni 2023) werden zum Abschluss die Sparten Tanz und Schauspiel mitwirken und deren bisherige Handlungsbeiträge weitergedacht.
Die Braunschweiger „Ausweitung des Ring-Gebiets“ schlägt mit diesem Konstrukt ein neues Kapitel der „Ring“-Interpretation überhaupt auf. In den letzten Jahren gab es mehrfach Produktionen von Richard Wagners Bühnenfestspiel, bei dem der Vierteiler mit 15 Stunden Musikdauer nicht von einer Regie-Handschrift, sondern von vier verschiedenen Regisseur*innen geprägt wurde – zum Beispiel in Stuttgart, Essen und Chemnitz. Ungewöhnlich ist der Verzicht auf zwei Teile der Originalpartitur und deren Ergänzung um zeitgenössische Artefakte, die den Nibelungenmythos und Richard Wagners Vision vom Untergang einer Welt, ihrer politischen Systeme und ökologischen Grundlagen weiterdenken. Die Dramaturgie des Staatstheaters Braunschweig nennt das die „Gebrochenheit und Heterogenität als Modell einer Gesellschaft in Transformation“. Operndirektorin Isabel Ostermann setzte mit drei Schauspielern Ausschnitte aus Thomas Köcks 2021 vom Berliner Ensemble uraufgeführten Bühnentext „wagner – der ring des nibelungen (a piece like fresh chopped eschenwood)“ in ihre „Rheingold“-Inszenierung und hinterfragte Wagners göttliche Gesellschaft so auf deren bestehende oder erloschene Relevanz.
Steffen Schleiermacher hält sich in deutlichem Abstand zu den meisten Schulen der Neuen Musik und „-ismen“ der Gegenwartsmusik, aber auch vom Kosmos Richard Wagners. Nach eigenen Angaben würde Schleiermacher als Zuschauer eine „Ring“-Gesamtaufführung gar nicht durchhalten. Er unternahm für „Siegfried – eine Bewegung“ einige Anleihen aus der originalen „Siegfried“-Partitur. Schleiermacher selbst sieht klangliche Analogien zu seiner genau 80-minütigen Partitur bei Bartók, Strawinsky und Varèse. Dass Schleiermacher einen durchaus praktikablen und gestischen Bezug zum Komponieren hat, macht ihn zum idealen Bühnentanz-Komponisten. Seine synkopischen Rhythmus-Konstrukte der in enger Koordination mit dem Braunschweiger Sparten-Direktor Gregor Zöllig entstandenen Partitur sind denn auch toller, griffiger Qualitätstreibstoff für den Choreografie-Motor. Aus diesem blitzen nicht nur Wagners klangliche Schwert- und Mime-, sondern sogar die lastenden „Götterdämmerung“-Signaturen heraus. Schleiermachers Rhythmus treibt mehr an als bei Wagner und beflügelt die wesentlich an Entstehung der Tanzszenen beteiligte Compagnie.
Es reihen sich viele schnelle Gruppenbewegungen. Bei Wagner gibt es in „Siegfried“ bekanntermaßen keine Massenszenen, in Zölligs Neudeutung dagegen zahlreiche. Da stößt der „hehrste Held der Welt“ und Wotans Wunsch-Weltretter auf eine junge Gruppe, welche die Vergehen und Versäumnisse ihrer Vorfahren kitten will. Dass der Drache eine symbolische Akkumulation von Defiziten und Ängsten, der Sieg Siegfrieds im Drachenkampf eine glückliche Selbstbewährung und Selbstfindung sein kann, wusste bereits die Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts. An diesem Punkt der von Zöllig anders gepolten „Siegfried“-Handlung beginnen die zwei Drittel des Abends einnehmenden Gruppenszenen: Dynamisch, sportlich und mit spannenden Bewegungsfolgen vollzieht sich Siegfrieds Kampf um Aufnahme in die Gruppe, welche die ökologische Götterdämmerung verhindern will. Für das polystilistisch einsetzbare Tanztheater des Staatstheaters Braunschweig geriet der Klimawandel zum ganz weit oben rangierenden Konzeptschwerpunkt dieser Spielzeit. Also mündet die Siegfried-Bewegung nicht in ein Tanzfinale, sondern in einen Unterwasserfilm. Mit ganz unterschiedlichen Stimmungen gleiten die Menschen zwischen den CO2-Blasen dahin, bis Siegfried auch dort auf Brünnhilde trifft. Göttervater Wotan ist hier eine Frau (Nao Tokuhashi), wodurch Siegfrieds Sehnsucht nach der unbekannten Mutter auch eine tänzerische Dimension hätte erhalten können. Das war aber nicht angedacht.
Bei den physischen Materialien strahlt die Produktion affirmatives Umweltbewusstsein aus. Hank Irwin Kittel zeigt Natur nur noch auf Bahnen von Fototapeten, welche auf Betonmauern geklebt oder von diesen abgerissen werden. Julia Burkhardts Kostüme, angelehnt an Trainingskleidung, geben den Tänzern Individualität. Trotz der vielen Gruppentänze wirken die wenigen Duo- und Soloszenen weitaus eindrucksvoller. Hier kommt Zöllig zu Bewegungsfolgen, welche mit Mitteln des Tanzes Wagners subtile Psychostrukturen in ziel- und treffsichere Bewegungen transformieren. Wie bei Aufführungen von Wagners originalem „Siegfried“ keine Seltenheit, gerät die spannungsreiche Beziehung Siegfrieds zu seinem Ziehvater Mime noch spannender als die Begegnung Siegfrieds mit der ihm durch Wotan vorbestimmten Brünnhilde. Wenn Brünnhilde einmal sogar Siegfried hebt und angewinkelte Knie immer wieder die körperliche Harmonie der beiden verhindern, zeugt das vom schnellen Scheitern der Beziehung.
Joshua Haines entwickelt als Mime ein bizarres Gefühlsgeflecht mit sadomasochistischen Zügen. Mime bewundert und instrumentalisiert Siegfried. Als gut gebauter Kerl und emotionaler Lebenslehrling klammert und entklammert sich Mátyás Ruzsom mit einer Intensität an und von Mime, die er später in der Gruppe und mit Brünnhilde nicht mehr finden wird. Das liegt auch an dem massiven Schrittmaterial, aufgrund dessen Siegfried viel zu schnell in der Gruppe aufgeht. Das Kämpfen und die Ängste vor der neuen Gemeinschaft ereignen sich ohne allzu große Spannungs- und Erregungszustände, die Mátyás Ruzsom zur Auseinandersetzung mit Mime noch in beklemmende Regungen überführte. Das Publikum war begeistert von der tänzerischen Verve und einer prägnanten Partitur, die Generalmusikdirektor Srba Dinić und das Staatsorchester Braunschweig mit Lust an Farben und Klangreichtum aus der Taufe hoben. Bei der Premiere wurden das Werk, das Orchester und das Tanzensemble vom Publikum lautstark gefeiert.
Roland H. Dippel |