Berichte
Bezaubernde Zauberin
Tschaikowsky-Wiederentdeckung an der Frankfurter Oper
Alles begann 1887 mit schlechter Presse und Ablehnung von Seiten des Publikums: Die Titelheldin Nastasja ist eine reiche Witwe und selbstbewusste Wirtin, also eine freizügig lebende Frau; sie, ihr jugendlicher Liebhaber, ein Fürstensohn, dem sie ohne Scheu eindringlich ihre Liebe erklärt, und seine Mutter werden am Ende vom Ehemann, Vater und fürstlichen Regional-Gouverneur, der selbst rasend in die „bezaubernde“ Nastasja verliebt ist, ermordet. Das war zu viel, auch weil die inhumane Orthodoxie der Kirche mit der Rolle des intriganten Popen durchaus kritisiert wurde. Tschaikowskys Lieblingsoper verschwand aus den Spielplänen. Erst 1941 versuchte eine russische Bearbeitung in Leningrad die Wiederbelebung. Dann erstellte Julius Kapp eine deutsche Fassung, die im Januar 1941 an der Berliner Staatsoper so erfolgreich war, dass drei Bühnen sofort folgten; in Wien, Frankfurt, Hamburg, Köln, Kassel und Breslau begannen die Proben – da überfiel Hitler die Sowjet-
union – Ende aller Aufführungen russischer Werke… 1887, 1941 oder auch 2022…?
Nombulelo Yende als Polja, Asmik Grigorian als Nastasja sowie Ensemble und Tänzer. Foto: Barbara Aumüller
Erst im Herbst 2023 wird eine kritische Ausgabe des Werkes erscheinen. Doch die preisgekrönte Frankfurter Oper hat sich mit Dirigent Valentin Uryupin und Regisseur Vasily Barkhatov zwei Metier-bewusste Kenner geholt, die dem doppeldeutigen Titel „Zauberin“ wie „Die Bezaubernde“ gerecht wurden. Sie forderten surreale Phantasie und tiefenpsychologisches Verständnis heraus: Nastasja betreibt eine moderne Kunst-Galerie mit Bistro im schicken Beton-Ambiente; die in der Musik kurz hereinklingende Natur ist auf – heute üblichen – Riesen-Gemälden präsent, auch durch eine übergroße Wolfsskulptur; auf Tschaikowskys leidvolle Homosexualität wird angespielt, weil sich allerlei Gender-People bei Nastasja einfinden, feiern und in Wolfsmasken auch mal frech an-aus-züglich herumtanzen (Choreografie Gal Fefferman). Dazu erst lässiges Mitspielen des Chores als Gäste, dann feiner Volkslied-Gesang in Fernwirkung durch Tilman Michaels Einstudierung.
Auf der herausragend großen Drehbühne Frankfurts konnte auch Bühnenbildner Christian Schmidt zaubern: Nur einen kurzen Zwischenvorhang, später nur einen offenen Drehmoment von Nastasjas Galerie entfernt liegt der protzig-öde Palast des fürstlichen Oligarchen, der sich selbst am Ende machtlos erlebt – die Wolfsskulptur steht nun surreal im Salon, während er die Toten zum Weiterleben in der Brokat-Sitzgruppe arrangiert und sich final eine nicht funktionierende Pistole an den Kopf hält.
Alle Frankfurter Aufführungen waren ausverkauft. Asmik Grigorian spielt eine fesselnde moderne Frau mit Zügen, die zum Titel passen – bis hin zur E-Zigarette, vor allem aber mit mal harter Artikulation, mal mit glutvollen Tönen der Liebe –, gipfelnd in der Szene, als sie im tödlich-tobenden Gefühlschaos zwischen beiden, nur halb her- oder weggedrehten, alle Illu-sionen als „gebaut“ zeigenden Bühnenbild-Welten steht – ein unvergessliches Bild existentieller Verlorenheit!
Ensemblemitglied Iain MacNeil als Oligarchen-Fürst gestaltete mit seinem herrlich virilen Bariton ein überzeugendes Gegengewicht zu Grigorians mal leichtfertig spielerischem, mal glühend aufblühendem Sopran. Ensemble-Mezzo Claudia Mahnke fiel als Fürstin krankheitsbedingt aus; Regie-Assistentin Verena Rosna ersetzte sie mit ihrer blendenden Bühnenerscheinung spielerisch überzeugend, während die aus Moskau eingeflogene Elena Manistina mit fülligen, dann rollengerecht scharfen Tönen von der Seite her sang. Dazu der differenziert tumbe, aber dann tenor-strahlend liebende Jung-Fürst Yuri von Alexander Mikhailov vor einem rollendeckenden Haus-Ensemble – zu Recht anhaltender Jubel auch für Dirigent Uryupin und das Museumsorchester. Eine Tschaikowsky-Wiederentdeckung, die ohne große Arien auskommt, aber mit geradezu zeitgenössisch wirkendem schnellen Wechsel von Volksmusik-Anklängen, Konversationston, dramatischem Ausbruch und mehrfachem ariosem Aufleuchten fesseln kann und unbedingt ins Repertoire gehört.
Wolf-Dieter Peter |