Kulturpolitik
Tanzausbildung im Wandel
Aspekte eines Symposiums an der Münchner Hochschule für Musik und Theater
Körperliche Attacken und Säure-Angriff im Bolschoi-Ballett – Klagen über Missbrauch im Wiener, Berner oder Berliner Ballett – vergleichbare Untersuchungen in x anderen Tanz-Compagnien europa- und weltweit… Da brodelt viel Unerfreuliches an die Oberfläche – aus einem Bereich, der eigentlich für Anmut, Zartheit, Eleganz und rein künstlerische Virtuosität, auch für Korrektheit, Ordnung und Disziplin steht. Also höchste Zeit für Untersuchung, Überprüfung und Korrektur. Für zwei Tage wurde die Ballettakademie der Münchner Hochschule zusammen mit dem Dachverband Tanz Deutschland e.V. zum Zentrum eines weltweiten Austauschs über die Zukunft der Tanzausbildung und selbstverständliche Standards im Umgang mit Körper und Seele. Europäische Leitungskolleginnen und -kollegen waren vor Ort und dank Digitalisierung klappten Screen-Schaltungen bis nach Kanada, Tokio und Australien.
Einfallstor für Missbrauch
Antje Klinge, Professorin an der Bochumer Ruhr-Universität, umriss die Problematik klar: Die Leidenschaft für Tanz ist immer auch das Einfallstor für Missbrauch; 70 Prozent der Studierenden sind unter 18 Jahren; es fehlt eine „Kultur des Neinsagens“. Klinge beklagte das Fehlen genauer Zahlen im Tanz-Bereich, Zahlen, die es für den teils vergleichbaren Sport gibt. Dort hatten 37 Prozent der Befragten Missbrauchserfahrung, 11 Prozent lange und schwere Folgeerscheinungen. In der Ballettausbildung müss-ten „body-mind“-Reflexionen offiziell Einzug halten, die Tanz-Leidenschaft hinterfragt werden – „Was tue ich da?“ müssten sich Lehrende wie Studierende fragen.
Performance im Rahmen des Symposiums. Foto: Pedro Dias
Münchens Professor Andrea Sangiorgio hatte eingangs betont, dass seit 2020 ein Paradigmenwechsel im Gange sei, die etablierte Hierarchie „Lehrer-Studierende“ aufgelöst werde und im Mittelpunkt stehe, wie am besten gelernt werden könne. Dabei kommt dem Begriff „Respekt“ zentrale Bedeutung zu, er durchzieht auch das von ihm koordinierte „Pädagogische Konzept“. Claudia Feest vom Vorstand des Dachverbands Tanz Deutschland führte konkreter aus, dass bei aller Qualitätssicherung der Ausbildung die Beachtung der physischen wie psychischen Gesundheit hinzutreten müsse, dass daher der Raum für Persönliches und bei allem Empowerment und der Wettbewerbsfähigkeit der Auszubildenden viel Hilfestellung beim Übergang von der Hochschule in eine Compagnie, aber auch beim Übergang in einen zweiten Beruf gegeben werden müsse.
Würde ist kein Konjunktiv
Mavis Staines von Kanadas National Ballet School zitierte in ihrem Beitrag Lord Actons „Power tends to corrupt“. Dort wurde die Tradition von Anfang an kritisch durchschaut, die „Fixierung auf den Spiegel“ als nicht förderlich erkannt: Musik sollte vor Technik rangieren, die je eigene Anatomie formt die Exzellenz; alle Machtfragen sollten „kindness“ und „gentleness“ weichen. Außerdem sollte die Hochschule für die bestmögliche Lernatmosphäre sorgen. Das ergänzte Sandra Moreno aus ihrer Erfahrung in Kanadas Ballett: Student councils stünden täglich als Ansprechpartner zur Verfügung, Konversation und Zuhören bis hin zur außer-tänzerischen Betreuung seien üblich. Hier fiel auch der zentrale Satz: „Würde ist kein Konjunktiv.“
Sehr praxis- und realitätsnah rührte die an der Münchner Hochschule tätige Ärztin Dora Meyer an „dirty secrets“ bezüglich Körper und Ernährung. Eher tabuisierte Bereiche wie Menstruation, künstliches Erbrechen und falsche Körperideale durch BMI führen dazu, dass rund 70 Prozent der Tänzerinnen fast schon von Kindheit an bis in die Pubertät ihr Essen reduzieren; Knochenschwäche, Osteoporose und andere Langzeitschäden folgen. Daher können schlichte Dinge wie gemeinsame, erläuternde Markteinkäufe bis hin zu personalisierten Essplänen helfen. Essen sollte nicht als Feind eingestuft, sondern als „Treibstoff“ klargemacht und verstanden werden – sie erwarte sich viel von der 2022 und 2023 laufenden „Nutrition-Intervention-Study“ der TU München. Das ergänzte Arzt und Professor Peer Abilgaard: Prävention sei nötig und diesbezüglich etwa die Londoner Ausbildung weit voraus; eine „bio-psychisch-soziale Gesundheit“ müsse der Leitbegriff sein.
Ganz in die Praxis führte dann der aus Wien zugeschaltete Martin Schläpfer. Da er als Direktor und Chefchoreograf das Staatsballett und die vorgeschaltete Ballettakademie leitet, umriss er die Erwartung an seine Rolle, die nach dem dortigen Skandal des Jahres 2000 eine Neuausrichtung brauchte, als Mischung aus „Pädagoge und Kunst-Magier“. Den Spagat zwischen den Parametern des Tanz-Kanons und der Individualität speziell des Nachwuchses versucht er durch ein Pädagogisches Team, ein „Kindeswohl-Team“, zu bewältigen. Dabei darf das System nicht stärker sein als das junge Individuum; speziell die jüngsten werden zwei Jahre durch Gouvernan-ten betreut; die Physiotherapie ist fest etabliert; es gilt ein „Code of Conduct“ mit regelmäßigem Eltern-Dialog; es gibt einen Jour fixe für die Juniorcompagnie und die Leitungsebene; zwischen der Hingabe des Schülers wie der Schülerin und einer „No-go-Hysterie“, was Berührung betrifft, muss Vertrauen zum und vom Lehrer wachsen, wobei Macht immer die Supervision braucht.
David Russo lockerte mit Tänzer*innen die verbalen Inhalte durch kleine Tanz-Einlagen eindrucksvoll auf. In mehrsprachigen und vielstimmigen Panels wurde der Komplex „Inklusion – Diversität – Diskriminierung“ diskutiert, etwa die Standards und Stereotype im Kanon klassischer Werke, wozu dann Bettina Wagner-Bergelt den Wandel im Körper-Bild durch Pina Bausch beisteuerte.
Unterschiedliche Sichtweisen trafen besonders im Panel „Wettbewerb“ aufeinander. Da ist das „Fenster in die neue große Welt“, da ist die Herausforderung ans Selbstvertrauen, da ist die Erfahrung des Nicht-Gewinnens. Die Brasilianerin Bianca Teixeira, Demi-Solistin im Bayerischen Staatsballett, steuerte bei, dass in ihrer Heimat nahezu alle zu Wettbewerben geschickt werden, viele nicht gewinnen, aber eben gesehen werden, was dann doch berufliche Folgen haben könne. Ihr Partner Julian MacKay würde begrüßen, wenn Ausschreibungen und Bewerbungen standardisiert würden. Solist Shale Wagman betonte die notwendige Hilfe nach einem Scheitern, weshalb ein Schul-Psychologe vorhanden sein sollte.
Verbesserung und Veränderung
Der Fragenkomplex „Wo stehen wir?“ rückte gegen Ende des zweiten Tages ins Zentrum. Medizinisches Screening sollte zur differenzierteren Bewertung der Kinder führen; dementsprechend forderte Javier Torres vom englischen Northern Ballet, dass Tanz und Medizin nicht als zwei Fächer gesehen, sondern fest miteinander verbunden sein sollten. In einem kurzen Zoom-Work-shop führte er die Münchner Studierenden durch ein „Gesundes Ballett-Training“, das genau diese Aspekte ganz praktisch umsetzt. Christopher Powney von der Londoner Royal Ballet School brachte den Aspekt ein, dass auch Eltern geschult werden müssten, um mit den Anforderungen an ihre Kinder, einschließlich Belastung und Druck, umzugehen. Élisabeth Platel von der Pariser École de Danse ergänzte, dass ganz offiziell das Mobiltelefon zur Ausstattung ihrer Schüler gehöre, um die regelmäßige Kommunikation zu den Eltern zu erhalten – was die Betreuer auch förderten.
„Verbesserung“ und „Veränderung“ hin zu einem ganzheitlichen Ansatz schwebten als Leitbegriffe in den hellen, schönen Räumen. Konkret angesprochen wurde dabei Jacqueline Smith-Autards Klassiker „The Art of Dance in Education“ von 2002, aus dem sich ein tägliches „Embodiment of Change“ bezüglich Tanz, Körper, Leben und Gesellschaft entwickeln könnte. Eindringlich schön formulierte dies Mavis Staines: „Nie das Licht in den Augen der Tanzenden erlöschen lassen oder erlöschen machen.“ Doch um dieses Strahlen auch von der Bühne ausstrahlen zu lassen, sind – faktisch banal – letztlich in allen Tanz-Institutionen zusätzliche Stellen unumgänglich, also eine realistische Erhöhung des jeweiligen Etats für weitere Planstellen – und für diese Maßnahmen durch die jeweilige Kulturpolitik fand Doreen Windolf von der Ballettschule Berlin die schlagende Kurzformel, die den Alltag in der Ausbildung prägen soll und kann: „Menschlichkeit braucht mehr Menschen.“
Beatrix Leser und Wolf-Dieter Peter
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