Berichte
Ein verfolgtes Genie
Uraufführung von Anno Schreiers Oper „Turing“ am Staatstheater Nürnberg
Erst 2009 – also 55 Jahre nach dem Selbstmord des Computer-Vordenkers Alan Turing – leistete der britische Premierminister Gordon Brown eine Abbitte für die „entsetzliche Art und Weise“ der Behandlung Turings durch das Empire. Eine gerichtlich verordnete Hormontherapie gegen Turings Homosexualität und seine durch diese gesteigerte Depression waren gewichtige Ursachen dafür, dass der Informatik-Pionier am 7. Juni 1954 im Alter von nur 42 Jahren durch Verzehr eines mit Zyanid präparierten Apfels freiwillig aus dem Leben schied.
Martin Platz als Turing, Mykhailo Kushlyk als Arnold, Andromahi Raptis als KI und der Chor der Nürnberger Staatsoper. Foto: Ludwig Olah
Nach Stewart Copelands „Electric Saint“ über Nikola Tesla beim Kunstfest Weimar 2021 ist Anno Schreiers Oper „Turing“ auf das Textbuch des Nürnberger Chefdramaturgen Georg Holzer innerhalb kurzer Zeit die nächste Oper über einen wichtigen Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Schreier (geb. 1979) feiert seit Jahren Musiktheater-Erfolge wie „Hamlet“ (Wien 2016) und „Schade, dass sie eine Hure war“ (Düsseldorf 2019). Die Uraufführung von „Turing“ im Opernhaus Nürnberg am 26. November 2022 wurde von BR-Klassik live übertragen. In der dritten Vorstellung am 11. Dezember saß auch viel junges Publikum im vollen Saal und feierte alle Mitwirkenden enthusiastisch. Allen voran Martin Platz als Turing. Dieser war bereits 2014 zum Protagonisten des filmischen Doku-Dramas „The Imitation Game“ und einer Arte-Dokumentation geworden. Wichtigste Partie in Schreiers Oper neben ihm: Andromahi Raptis verkörperte mit fast befremdlich warmen Strahltönen eine Künstliche Intelligenz und virtuelle Vertrauensperson des nach einer kurzen Liebe zum Mitschüler Christopher Malcolm so gut wie beziehungsunfähigen Genies. Ein lyrischer Tenor dialogisiert in dieser Oper mit dem Primadonnen-Part. Nur ist das ideale Frauenwesen diesmal keine geheiligte Männerphantasie, sondern Symbol und Vision für eine bessere Künstliche Intelligenz.
Turings Entschlüsselung deutscher Funksprüche trug entscheidend zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg bei. In der Oper nehmen die mit Morse-Fragmenten durchsetzten Kriegsszenen breiten Raum ein, wenn Turing durch Vorwürfe des Kollegen Max (Wonyong Kang) in einen moralischen Konflikt gerät. „Ich bin eine Insel“, singt Turing immer wieder. Für seine Umwelt wird er durch seltsame Absenzen, welche eigentlich geschärfte Konzentration sind, zum Rätsel. „Das Spiel wird da interessant, wo wir die ‚normale‘ Perspektive verlassen und unsere verrückte Welt durch den Blick des glasklaren Genies betrachten“, räsoniert Regisseur und Staatsintendant Jens-Daniel Herzog.
Auch zu seiner Universitätskollegin Joan, die ihn durch Heirat vor Brandmarkungen aufgrund seiner Homosexualität schützen will, bleibt Turing distanziert. Die Frauen in seiner Nähe – die dritte neben Madame KI und Emily Newton als Joan ist Almerija Delic als Turings Mutter – verfügen über kräftige und hier mit vitalem Notenmaterial versorgte Stimmen. Dankbar bedacht sind alle Partien inklusive des als Kommentator nach Vorbild der antiken Tragödie und für eingreifende Instanzen genutzten Chors des Staatstheaters Nürnberg (Leitung: Tarmo Vaask).
Schreier und Holzer zeichnen in ihrem Textbuch keine stichhaltig verifizierte Biographie. Mit der in dieser Spielzeit ihr 100-jähriges Jubiläum feiernden Staatsphilharmonie Nürnberg packt Guido Johannes Rumstadt bei Schreiers elegischen, brachialen und burlesken Angeboten kräftig zu, übersieht allerdings hin und wieder die als Ironie deutbaren Zeichen der Partitur. Investigative Polizisten (Veronika Loy und Mats Roolvink) singen à la Johann Sebastian Bach, die juristische und damit moralische Verurteilung walzt wie ein Mendelssohn-Choral über Turing hinweg. Schreier gibt seinem Titelhelden und dessen vermauerten Innenwelten eine gleißend charismatische Tonsprache. Kostümbildnerin Sibylle Gädeke macht ihn mit blässlichen Textil-Farben zum Fremdkörper im Sozialgefüge. Herzog in seiner Regie und Mathis Neidhardt (Bühnenbild) definieren psychische und physische Räume mit fast naiv abgrenzender Konturierung. Neonlinien modellieren im Hintergrund Turings Kopf: ein Denkzentrum, dessen Leistungskapazität die Absurdität der zivilisatorischen Paradoxien mühelos überblickt und trotzdem an ihnen scheitert.
Eine schwule Disco, in der Turing den Stricher und Kleinkriminellen Arnold (Mykhailo Kushlyk) kennenlernt, streift die Karikatur. Da gerieten die Posen des Herrenchors (Choreografie: Ramses Sigl) zu überhöht gemeinten, dabei gefährliche Nähe zu vormodernen Klischees suggerierenden Posen. Der Chor hatte mehrere Rollen: die Stimmen des Common Sense, des Turings Homosexualität verurteilenden Tribunals und Stimmen aus seinem Inneren. Der Chorpart trug entscheidend zur Multiperspektivität des Geschehens bei und bildete die Gegenstimme zur Solostimme der Madame KI. Martin Platz widmete sich zwischen diesen figurativen und symbolischen Polen den spröden bis lyrischen Phasen Turings mit versachlichender Hochspannung. Er überhöhte die Figur des unauffälligen und am Schluss zum unförmigen Fleischberg anwachsenden Genies mit leiser Intensität zu einem ätherischen Wesen in der Hülle eines Buchhalters. Alles um ihn herum wirkt griffiger als Turing selbst, der über die Materialermüdung eines Fahrradschlauchs so konzentriert nachdenkt wie über eine Künstliche Intelligenz, die der Menschheit das autonome Denken erspart und diese so ein bisschen glücklicher machen wird. Licht aus und viele Frage offen, vor allem über das Liebesbedürfnis des lieblosen Turing: Die Uraufführungsinszenierung geriet zu theatralem Blendwerk auf hohem Niveau, weil sie letztlich zu keiner der drei Handlungsebenen – der Welt, Turings Denken und der virtuellen Figur der Madame KI – den genau passenden Schlüssel fand. Deshalb blieb sie auch hinter den Fragestellungen von Schreiers Musik zurück. Dieser ging bereits in „Vier Turing-Tests für zwei Violinen oder zwei Violen“ (2020), Vorstudien zur Oper, der Frage nach, „welchen maschinellen und welchen lebendigen Anteil Musik haben kann, wie viel Mechanik im Lebendigen und wie viel Leben in der Maschine steckt“. Dieser semantischen, die auch eine ästhetische, philosophische und ethische Herausforderung ist, blieb das Staatstheater Nürnberg leider einiges schuldig. Die visuelle Struktur der Inszenierung vermochte nicht in die tieferen Schichten des komplexen Sujets einzudringen.
Roland H. Dippel |