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Liebe zwischen Himmel und Hölle

Neumeiers Ballett „Liliom“ in Hamburg · Von Gisela Sonnenburg

Es ist die Geschichte eines sozialen Absteigers. Dennoch ist es eine der schönsten Liebesgeschichten: „Liliom“, das jüngste abendfüllende Ballett von John Neumeier, entstand frei nach dem Theaterstück von Ferenc Mol-nár. Als „Ballettlegende“ untertitelt, erschafft es – musikalisch, optisch, dramaturgisch – ein eigenes Universum aus Melodien und Metaphern. Da prallen Gegensätze aufeinander. Etwa so: Der Schauplatz „Jahrmarkt“ wird mit einer verunsicherten Gesellschaft in der Wirtschaftskrise konfrontiert.

Probe zu „Liliom“ mit John Neumeier und Carsten Jung. Foto: Holger Badekow

Probe zu „Liliom“ mit John Neumeier und Carsten Jung. Foto: Holger Badekow

Eine Lovestory als Lichtblick und Hoffnungsziel, als Fluchtpunkt und Rückzugsort durchzieht den knapp dreistündigen Abend. Tanz und Musik spiegeln sich, wurden füreinander geschaffen, sind wie miteinander verwoben. Die „tanzmusikalische“ Arbeit war ein Auftragswerk der Hamburgischen Staats-oper. Auf Wunsch von John Neumeier, Intendant des Hamburg Ballett, ging der Auftrag an den prominenten französischen Jazz- und Filmkomponisten Michel Legrand. Der ist trotz 80 Lebensjahren topfit. In enger Zusammenarbeit mit Neumeier entstand ein transparentes Gesamtkunstwerk aus Klangkaskaden und Knallgewittern. Dabei brilliert die NDR Bigband mit fetzigen Swing-Rhythmen von einer Galerie auf der Bühne aus, während die Philharmoniker Hamburg wie gewohnt unterhalb der Rampe arbeiten. Dazu tänzelt ein Akkordeonist bei den Balletttänzern im Scheinwerferlicht – vielfältiger kann man Live-Musik wohl nicht einsetzen. So viel Originalität wurde belohnt: Legrand und die Tanzstars Alina Cojocaru und Carsten Jung erhielten für ihre Leistungen mit „Liliom“ – Premiere war im Dezember 2011 – den „Oscar“ der Ballettwelt, den „Prix Benois de la Danse“.

„Als mich Michel Legrand anrief und fragte, ob wir zusammen ein Ballett machen wollen, schlug ich spontan ‚Liliom‘ vor“, erzählt John Neumeier. Er hatte seit längerem daran gedacht, aus dem Molnár-Stück ein Ballett zu machen. Es spielt, anders als Molnárs Budapester Original, im Chicago der 30er-Jahre. „Damals gab es die große Depression in den Staaten, mit einer hohen Arbeitslosigkeit und viel Armut“, sagt Neumeier. Ergreifende Ensemble-Szenen illustrieren, wie es vor der „Job Agency“ zugeht, wenn Menschen arbeitslos sind. In abgerissenen Kostümen halten manche Tänzer Schilder, auf denen sie ihre Arbeitskraft anbieten. Im Corps tanzen sie wie eine graue Masse, wuterfüllt, vereinzelt apathisch. Andere verleihen mit tollkühnen Sprüngen der deprimierenden Situation, aber auch dem Überlebenswillen Ausdruck. Titelheld Liliom, von Carsten Jung exzellent als proletarische Männlichkeit verkörpert, ist einer, der sozial tief fällt.

Getanzte Sprachlosigkeit

Zunächst arbeitet Liliom als Ausrufer am Karussell. Er becirct seine Chefin, die elegante Frau Muskat. Als die junge Julie (Alina Cojocaru aus London als Gaststar beim Hamburg Ballett) auftaucht, verlieben sie und Liliom sich. Aber sie schaffen es nicht, ihre Erotik auf eine solide Basis zu stellen. Neumeier: „Sie machen einen Fehler, den manche Paare machen: Sie können nicht miteinander sprechen.“ So folgt dem poetischen „Parkbank-Pas-de-deux“ eine schwierige, gewalttätige Beziehung: Liliom, von der Muskat wegen seiner Liebe zu Julie gekündigt, mutiert zum asozialen Schläger. Nach einem missglückten Raubüberfall entzieht er sich durch Suizid der Verhaftung – und landet im Fegefeuer. Nach sechzehn Jahren darf er zur Erde, die für ihn nun so etwas wie das Paradies ist. Doch erneut versagt Liliom, klaut unterwegs einen Stern – und schlägt Julie und das gemeinsame Kind, weil es anders reagiert als erwartet. Weder Julie noch der Sohn spüren Schmerz, wie sie verwundert feststellen. Das Sozialdrama mündet in Lilioms Himmelfahrt: weil er trotz Aggressivität eine tiefe Liebe empfindet.

Neumeier legt Wert auf die Spannung zwischen der harten sozialen Realität und der Metaphysik: „Das Stück kann man nur in einer Zeit spielen lassen, in der es soziale Not gibt. Sonst wäre alles total unverständlich.“ Legrand wiederum fasziniert es, dass im Stück „auch Härte und Rohheit, ja sogar Hass“ vorkommen. Euphorischer Jubel des Publikums sowie die Einladung ins Festspielhaus Baden-Baden bezeugen, dass das Stück verstanden wird. Zudem ist solches Ballett-Theater mit geradezu Brechtschem Impetus eine Novität.

Legrands Bereitschaft, auf spezielle Erfordernisse einzugehen, trug dazu bei. „Als Filmkomponist schreibt man Musik, die unterbrochen wird. Im Ballett läuft die Musik hingegen durch. So ist es mir möglich, die Geschichte anders zu erzählen“, erklärt der dreifache „Oscar“-Preisträger, der diese Trophäe unter anderem für seine Musik zum Barbra-Streisand-Film „Yentl“ erhalten hat. Legrand ersann Melodiebögen für die Darstellung bestimmter Situationen, Instrumente quasi leitmotivisch für einzelne Personen. So begleitet der Akkordeonist zum Beispiel die Figur des Liliom durch dessen Liebesleben.

Hinter den Kulissen haben derweil viele Menschen fantastisch gearbeitet. Darunter die Choreologin Sonja Tinnes. Sie ist eine enge Mitarbeiterin von John Neumeier, notiert die Ballette in der für Tanz geschaffenen Notation, die sie in London am Benesh Institute of Choreology erlernt hat. 1994 war sie erstmals als Gast in Neumeiers Team, seit 1996 ist sie dort angestellt. Sie schätzt die Souveränität des genialen Künstlers: „Er ist so lange mit dem Haus vertraut.“ Bei „Liliom“ war dennoch manches seltsam. Es begann mit der Raumsuche für die Proben. Tinnes: „Wir probten mit zwei Klavieren, schon das war anders als sonst.“ Die Partitur lag zunächst nur als Auszug für zwei Konzertflügel vor, nicht als Einspielung eines Orchesters oder irgendwelcher Instrumente aus dem Computer. Nur: In Ballettsäle passen keine zwei Flügel.

Lediglich in der Probenhalle „Petipa“ konnte man sie unterbringen. Die Wände sind dort aus rohem Backstein, von der Decke hängen Scheinwerfer. Für Neumeier ungewohnt: Er beginnt neue Ballette sonst in einem kleinen Raum mit intimer Atmosphäre. Die Inspiration litt aber nicht. Ab September 2011 entstand die Choreografie. Neumeier arbeitete chronologisch, tanzte oft bei den „Kreationsproben“ – und Sonja Tinnes notierte.

Bühnenprobe: Erstmals steht die Hochzeitsszene auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper. Liliom wird darin zum Raubüberfall überredet. Vorher wird getanzt. Von links ragt ein Tisch ins Bild. Drumherum ist das Ensemble gruppiert. Die Pianisten spielen Heiteres, die Paare sehen mit temporeichen Hebungen ätherisch aus. „Stop, stop, stop“, Neumeier schreitet mit dem Mikrofon in der Hand ein. „Ihr seht aus wie die Feen im Garten! So geht das nicht. Tanzt mehr in den Boden!“ Weniger elfenhaft soll das Ensemble hier wirken, dafür bodenständig, vital, dynamisch. Zudem stimmt etwas mit der Verteilung der Tänzer nicht.

Sonja Tinnes, Neumeiers wandelndes Gedächtnis, eilt herbei. Sie weiß, welches Paar wohin walzern muss. „Besser!“, findet Neumeier. Zehn Tanzpaare diagonal über die Bühne zu dirigieren, ist auch für einen Starchoreografen nicht immer leicht. Schwer haben es in „Liliom“ aber auch die Musiker. Sie müssen nicht nur mit den Tänzern, sondern auch mit dem jeweils anderen Ensemble harmonieren. Tinnes: „Schwierig sind die zeitliche Koordination und die räumliche Distanz zwischen Orchester und Bigband.“ Außerdem gibt es Unterschiede im Dirigat: Während sich die Bigband unmittelbar leiten lässt, legen die Philharmoniker Hamburg stets einen Taktschlag nach dem Handzeichen des Dirigenten los.

All das ergibt eine Grenzerfahrung nicht nur für Simon Hewett, Dirigent der Uraufführung. Und Sonja Tinnes legt noch ein Problem dar: „Weil die Lautstärke vom Swing auf der Bühne so groß ist, muss der Orches-terklang verstärkt werden, damit die Tänzer ihn gut hören.“ Solchermaßen aufeinander abgestimmt, zeigen die Profis dann, dass es ihnen ernst ist: mit Weltkunst.

Gisela Sonnenburg

 

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