Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Ballett-Abschiede

Christian Spuck verlässt Stuttgart · Portrait von Vesna Mlakar

Grüezi, Christian Spuck!

Tanz, Musik, Ausstattung und Subtext! Das sind en gros die Ingredienzen, mit denen Christian Spuck auf der Bühne Atmosphäre schafft. So zieht er Publikum in Bann. Nach einer choreografischen Assistenz bei Marco Santi (1994-1996) und eigenen Anfängen im Rahmen der Noverre-Gesellschaft (gleich sein Erstling „Duo/Towards The Night“ schaffte es ins Repertoire sowohl des Stuttgarter Balletts wie der Deutschen Oper Berlin) füllt er damit zunehmend auch ganze Handlungsabende. Und er findet dabei, Stück für Stück, jeweils neue Ansätze. Spuck ist Spuck – Wiedererkennbarkeit keine Frage! – und doch niemals derselbe. Sein kraftvoll-filigranes Tanzvokabular geht Hand in Hand mit seinem Sinn für Beobachtung, Adaptation und Dekonstruktion sowie einem seltenen Gespür für Komik, technische Virtuosität und plausiblen Einsatz von Dramatik (Brüche inklusive) mit gleichzeitigem Spaß am Erzählen.

Stuttgarter Ensemble in Spucks „Das Fräulein von S.“. Foto: Stuttgarter Ballett

Stuttgarter Ensemble in Spucks „Das Fräulein von S.“. Foto: Stuttgarter Ballett

Bereits 1998 – seinem Choreografiestart für das Stuttgarter Ballett, dem er seit 1995 angehörte – kürte ihn die Fachpresse zum Nachwuchs-Choreografen des Jahres. Von da an hat er, der als Tänzer Erfahrungen bei Jan Lauwers’ Needcompany und Anne Teresa De Keersmaeker sammeln konnte, mit seinen Arbeiten maßgeblich zur Ausformung des modernen Profils der Compagnie und über deren Grenzen hinaus beigetragen. Sein Potenzial für das Narrative zieht sich dabei durch alle Werke, auch wenn seine frühen Stücke abstrakten Charakter besitzen.

Nach einem Sommer am Choreographic Institute des New York City Ballets wurde Spuck 2001 in Baden-Württembergs Tanzmetropole zum Haus-Choreografen ernannt. 2006 erhielt er den Deutschen Tanzpreis „Zukunft“ für Choreografie. 2011 folgten der Deutsche Theaterpreis „Faust“ für „Poppea//Poppea“ und der Danza & Danza Award als bester Choreograf. 37 Produktionen, seit 2005 Musiktheaterinszenierungen wie „Berenice“ von Johannes Maria Staud in Heidelberg, Glucks „Orphée et Euridice“ (Stuttgart), Verdis „Falstaff“ für Wiesbaden und der Film „Penelope“ eingeschlossen, lautet die stolze Bilanz im Jahr 2012.

Glücklich und unglücklich

Fast die Hälfte von Spucks Arbeiten entstand für und mit der genialen Tänzercrew des Stuttgarter Balletts, Grande Dame Marcia Haydée nicht ausgenommen. Obwohl der scheidende „Schrittmacher“ allein für das Programm seiner Abschiedsgala am 7. Juli im Stuttgarter Opernhaus verantwortlich zeichnete, behielt sich sein künstlerischer Ziehvater und Intendant des Stuttgarter Balletts Reid Anderson die Eröffnung vor – mit Stolz und Wehmut zugleich: Verlust des innerhalb von 16 Jahren vom Eleven der Cranko-Schule zum Tänzer, dann zum Choreografen von internationaler Bedeutung gereiften Künstlers; dessen „Entführung“ zweier Elitesolisten – Katja Wünsche und William Moore – an die neue Wirkungsstätte; Freude am Export eines Talents „made in Stuttgart“ sowie der Gewinn eines Chefkollegen, der mit Musik und Bewegung ebenso umgehen kann wie mit Menschen, und der sich neben einer eigenen choreografischen Sprache das Rüstzeug zum erfolgreichen Ensembleleiter angeeignet hat.

Daher begrüßte Anderson „glücklich-unglücklich“ den gebürtigen Marburger, der im Zuschauerraum Platz genommen hatte, mit den Worten: „Herzlich willkommen, Herr Direktor!“ Dieser wiederum hätte die zweieinhalb folgenden Stunden nicht besser nutzen können, um den Zurückbleibenden noch einmal die Spannweite seiner Arbeit, die Verbundenheit mit Weggefährten und damit letztlich seine Eignung für den verantwortungsvollen Posten als Zürcher Ballettdirektor vor Augen zu führen.

Mit „Lulu. Eine Monstretragödie“ nach Wedekinds Roman „Die Büchse der Pandora“ hatte Spuck 2003 sein erstes abendfüllendes Handlungsballett gewagt. Eine sich steigernde, gegen Ende fast drastische Befreiung seiner Titelprotagonistin von jeglichen Zwängen des akademischen Ballettvokabulars machte ihren sozialen und seelischen Verfall innerhalb charakterstark arrangierter Gruppen mit rein tänzerischen Mitteln deutlich. In einem Ausschnitt rief nun Urbesetzung Alicia Amatriain in kurzem weißen Kleidchen, mit messerscharf in alle Richtungen geworfenen Beinen und ihren sich kindfraulich räkelnden, partnerumschlingenden Bewegungen die Faszination und expressive Kraft des Tanzdramas in Erinnerung.

Spuck kann auch anders

Die melancholische Düsternis – von Spuck 2007 in dem absonderlichen Kammerstück „Sleepers Chamber“ auf die Spitze getrieben – konterkarierten Passagen aus Spucks genialem Choreografiestreich „Don Q.“ – einem von Ideen nur so sprühenden Meisterstück über einen älteren Herrn (Egon Madsen) und seinen jungen Weggefährten (Eric Gauthier), die in ihrer absurden Zweckgemeinschaft gefangen sind. 2007 für das Theaterhaus Stuttgart in Anlehnung an Cervantes Vorlage ersonnen, begeistert diese „nicht immer getanzte Revue über den Verlust der Wirklichkeit“ (so der Untertitel) mit zahlreichen Anspielungen, skurrilen Episoden und einer brillanten Gratwanderung zwischen Humor und Tragik. Einen Flashback auf Spucks erstmalige Verlagerung der Musiker auf die Bühne sowie seinen dynamischen, nie wirklich vorhersehbaren Umgang mit einer größeren Anzahl von Tänzern bot die darauf folgende Sequenz aus „Das Siebte Blau“ (2000; Musik: Schubert/Kurtág).

Abschiedsgala für Spuck in Suttgart. Foto: Ballett Stuttgart

Abschiedsgala für Spuck in Suttgart. Foto: Ballett Stuttgart

Dazwischen platzierte Spuck die Männersoli „Äffi“ (Marco Goecke zu Songs von Johnny Cash) und als obskures Gegenstück „Mäuse“ von Louis Stiens für dessen Ensemblekollegen Robert Robinson. Mit Marijn Rademaker und McKie fügte sich dazu das Duo „Fingerspitzengefühl“ von Demis Volpi. Eine schöne Reverenz vor Originalität und gegenseitigem Ansporn. Kein unwichtiger Aspekt für den künftigen Zürcher Hausherrn, der am 13. Oktober mit einer Uraufführung von „Romeo und Julia“ selbst in Konkurrenz zu unter anderem John Crankos Version treten wird und neben Eigenkreationen Werke anderer (zum Beispiel von William Forsythe, Edward Clug, Paul Lightfoot und Sol Léon) in sein Repertoire integrieren will. Ein weiterer Name der nachrückenden Stuttgarter Jungchoreografen, den Spuck im November mit einer Uraufführung für das Schweizer Junior Ballett eingeladen hat, ist Douglas Lee. Sein Markenzeichen sind die extreme Körpermodellage im Raum und virtuoses Partnering.

Sinn für Humor

Ins Zentrum der zweiten Vorstellungshälfte stellte Spuck den abstrakten Mittelteil seines letzten Balletts für Stuttgart: „Das Fräulein von S.“ (2012) – ein Paradefall zur Überprüfung der Vielfalt seines Vokabulars, seiner Musikalität und Bandbreite an Bewegungsvarianten in Soli oder der Kombination von Paaren. Spätestens hier verstand jeder Andersons Ansage „Sie werden sehen, was wir hier verlieren“.
Für Lacher sorgte Spucks urkomische Persiflage „Le Grand Pas de Deux“, worin die unvergleichliche Amatriain mit Brille und rotem Handtäschchen die ambitionierten Allüren ihres Partners Jason Reilly ebenso wie die grazile Leichtigkeit der Klassik ad absurdum führt. Kein Zufallstreffer, brachte Spuck zu anderer Gelegenheit doch auch mit drei skurril-verschämten Burschen und ihrem „Ständchen“ (2009) den gesamten Saal zum Kichern.

Dramaturgische Klammer nach der Pause war Spucks grandiose Büchner-Adaption „Leonce und Lena“ – ein poppig-unterhaltsames Gesamtkunstwerk von 2008. Spuck fand fabelhafte Entsprechungen für Kleinstaaterei und die in leeren Ritualen erstarrte Borniertheit des Adels. Zum Abschied brachte Spuck dann den engen Zusammenhalt innerhalb der Truppe auf den Punkt mit dem Finale von „Leonce und Lena“, bei dem das Hauptpaar Wünsche/Moore resignierend winkend an Hofstaat und Ensemble nach hinten abgeht.

Ein wahres Traumpaar für einen solchen Aufbruch!

Vesna Mlakar

 

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner