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Man hat eine große Verantwortung
Der Choreograf John Neumeier · Im Gespräch mit Malve
Gradinger
Am 24. Februar 2012 feiert John Neumeier seinen 70. Geburtstag:
Charismatischer Tänzer, weltberühmter Choreograf, umsichtiger
und erfolgreicher Hamburger Ballettintendant, Ballettschuldirektor
und Stiftungsgründer – die Karriere des aus Milwaukee,
Wisconsin, stammenden Amerikaners ist einmalig. Und noch fühlt
der jugendlich sportlich wirkende 69-Jährige keine Ermüdungserscheinungen.
Malve Gradinger traf John Neumeier anlässlich der Einstudierung
seines Balletts „Illusionen – wie Schwanensee“ von
1976 beim Bayerischen Staatsballett (siehe Kurzkritik im Kasten)
und sprach mit ihm für „Oper & Tanz“.
Oper & Tanz: Herr Neumeier, Sie gehörten
zu den ersten Choreografen, die Klassiker gewendet, das heißt
inhaltlich zeitgemäß verändert haben. Ihr „Nussknacker“ von
1971 (seit 1973 auch im Münchner Repertoire) ist ein frühes
exquisites Beispiel. Dieses 1882 von Petipa/Iwanow kreierte Ballett-Weihnachtsmärchen
ist bei Ihnen in die malerische Atmosphäre von Edgar Degas‘ Ballerinen-Bildern
verlegt, und Drosselmeier ist nicht mehr nur netter Geschenke-Onkel,
sondern ein wunderbar skurriler tänzerischer Ballettmeister.
Wie sind Sie darauf gekommen, „Schwanensee“, ein
weiteres Tschaikowsky-Petipa/Iwanow-Ballett, mit Bayerns König
Ludwig II. in Verbindung zu bringen?
John Neumeier: Jürgen Rose
hatte 1964 John Crankos „Schwanensee“ in
Stuttgart ausgestattet. Schon für Crankos Münchner Neufassung
1970 wollte er eine Neuschwanstein-Kulisse entwerfen, was aber
nicht realisiert wurde. Als er mir von den Schlössern Ludwigs
vorschwärmte, waren für mich sofort die Parallelen präsent
zwischen der Weltflucht des „Schwanensee“-Prinzen
und Bayerns Märchenkönig, der sich ja auch von der politischen
und gesellschaftlichen Realität entfernte. Und die Verschmelzung
der Kunstfigur „Siegfried“ und der historischen Persönlichkeit
Ludwigs gab mir die Möglichkeit, einen Protagonisten zu kreieren,
der menschlich glaubhaft ist. Bevor ich, generell, ein Handlungsballett
beginne, bevor ich Bewegungen und Bilder finde, muss ich an den
Menschen in dieser Geschichte glauben... Es gibt Leute, die Emotionalität
als Ausgangspunkt für eine Choreografie als altmodisch empfinden.
Wie man meine Werke auch sehen mag, ich verstehe sie als emotionalen
Ausdruck eines Menschen und glaubhafter menschlicher Beziehungen.
In abstrakten sinfonischen Balletten
ist es der emotionale Gehalt der Musik und die Persönlichkeit
der Tänzer. O&T: Man findet ja immer seine
Vorbilder in Künstlern,
die im Grunde die eigene Veranlagung und Begabung ansprechen. In
einem Interview mit einem Kollegen nannten Sie Nijinsky und den
US-Choreografen Jerome Robbins. Was Sie gerade geschildert haben
und auch, wie Ihre Arbeiten wirken, lassen mich unmittelbar an
eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Tanzgeschichte
des 20. Jahrhunderts, an den englischen Choreografen und Pädagogen
Antony Tudor denken. In seinen Balletten, in der von ihm so nuanciert
psychologisch durchdachten Tanzgeste ist eine tiefe, Anteil nehmende
Menschlichkeit zu spüren.
Neumeier: Tudor war tatsächlich mein erstes großes Vorbild.
Seine Ballette sind mit die ersten, die ich als junger Tanzstudent überhaupt
in meinem Leben gesehen habe, dank der US-weiten Gastspiele des
New Yorker Ballet Theater, für das er einiges choreografiert
hatte: „Lilac Garden“, „Dark Elegies“ und „Pillar
of Fire“ – wirklich ein großer Wurf, finde ich.
Diese Verbindung von menschlichen Situationen mit der komplizierten
Form des klassischen Tanzes hat mich immer sehr fasziniert. Auch,
dass er sehr in choreografische Details hineingegangen ist. In
den 70er-Jahren war Tudor Co-Direktor des American Ballet Theatre.
Ich habe damals eine Zeitlang dort gearbeitet und hatte Gelegenheit,
mit ihm über Tanz zu sprechen, was sehr inspirierend war.
O&T: Geprägt wurden Sie aber auch von Sybil Shearer, eine
der großen Einzelgängerinnen des amerikanischen Modern
Dance, die bei der Pionierin Doris Humphrey studiert und als Solistin
in der Humphrey-Weidman-Company getanzt hat. In der von ihr 1959
gegründeten Sybil Shearer Company hatten Sie ihr erstes Engagement
als Tänzer und haben in dieser Zeit auch choreografiert.
Neumeier: Die Geschichte mit Sybil
Shearer ist interessant: Ich, ganz unter dem Einfluss von Tudor,
wollte immer Geschichten erzählen,
dramatische Werke machen! Und Sybil sagte ganz trocken: „Ja,
was ist ein dramatisches Ballett? Das ist, wenn jemand an die Tür
klopft, und man macht die Tür auf. Und niemand ist da.“ Dieses
Bild ist mir irgendwie immer im Kopf geblieben. Das Witzige dabei
ist: Als Sybil aufhörte zu tanzen und ihre Autobiographie
schrieb, wurde deutlich, dass sie eigentlich von der Dramatik herkam,
dass sie sogar bei einer ganz berühmten russischen Schauspielerin,
Maria Ospinskaya, Schauspielunterricht genommen hatte. Ihr war
also die dramatische Ebene durchaus wichtig. Aber sie wollte, dass
man sich von Manierismen befreit. Dass man dramatische Ballette
nicht in dem alten manierierten Stil choreografiert, sondern wirklich
von einem Urgedanken ausgehend arbeitet und dafür eine neue
Form findet. Das Wesentliche für mich in dieser intensiven
Zeit bei ihr war vor allem ihr Bewegungsreichtum. Sie war ihrer
Zeit weit voraus in den freien Bewegungen, in den Körper-Isolationen – in
all dem Bewegungsmaterial, das vom Modern Dance dann später
noch weiterentwickelt wurde. Cranko: Meister des Pas de deux
O&T: Nach Shearer waren Sie von 1963 bis
1969 in John Crankos Stuttgarter Ensemble als Tänzer engagiert, haben für
die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft, damals wichtige Plattform
für den Choreografen-Nachwuchs, Stücke entworfen. Sie
haben immer betont, dass Cranko für Sie kein maßgeblicher
Einfluss gewesen sei. Aber irgendetwas müssen Sie doch von
ihm mitgenommen haben.
Neumeier: Cranko war ein wirklich
großartiger Handwerker,
vor allem wenn es um Pas de deux ging. Da bin ich ihm ewig dankbar
für all das, was man bei ihm lernte und auch weiterentwickelte.
Ja, dieses Handwerk, einen Pas de deux zu choreografieren, der
nicht Resultat von irgendeinem Ereignis, sondern das Ereignis selbst
ist.
O&T: 1969 wurden Sie Ballettchef in Frankfurt,
1973 wechselten Sie nach Hamburg. Seitdem studieren Sie in Ihrem
eigenen Hamburger
Ensemble und auch überall in der Welt immer wieder ältere
Ballette aus Ihrem immensen Repertoire ein. Jüngstes Beispiel:
die „Illusionen“. Was macht für Sie eine solche
Wiederaufnahme legitim? Die Welt und Sie selbst haben sich in den
letzten dreißig, vierzig Jahren verändert...
Neumeier: Ich glaube, es ist – das klingt jetzt vielleicht
komisch – die Tatsache, dass ich noch lebe. Ich empfinde
es so, dass Werke, die im Hier und Heute getanzt werden, keineswegs
Fragmente der Vergangenheit sind. Denn Tanz lebt nur in der Gegenwart...
Wobei natürlich „Illusionen“ oder auch ein anderes älteres
Ballett, weil es eben in unserer Gegenwart getanzt wird, überprüft
werden muss und zwangsläufig immer wieder eine Veränderung,
eine Evolution durchmacht. Das heißt nicht, dass das Grundkonzept
oder dass viele Schritte verändert werden. Aber ich versuche,
jedes Mal, wenn ich eines meiner Ballette wieder auflege, es so
anzuschauen, als hätte ich es noch nie gesehen. Und frage
mich: „Was habe ich damals dabei gedacht? Ist das noch stimmig?“ Und
wenn nicht, sucht man einen besseren Weg, diesen oder jenen Gedanken
auszudrücken. Und natürlich gehe ich bei Wiederaufnahmen
auch auf die Persönlichkeiten der neuen Besetzung ein, ändere
so, dass es zu dem betreffenden neuen Tänzer passt.
O&T: Ein anderes Thema: Es
gab Ballettchefs, und Sie gehörten
dazu, die es nicht gerne sahen, wenn Tänzerinnen heirateten
und Kinder bekamen.
Neumeier: Einige haben das so verstanden, dass
ich persönlich
gegen Beziehungen meiner Tänzer gewesen bin. Das stimmt so
nicht. Aber richtig ist, dass zwischen einem Ballettensemble heute
und dem Stuttgarter Ensemble, in dem ich als 21-jähriger Tänzer
engagiert war, Welten liegen. Es gibt heute ich weiß nicht
wie viele Kinder in meinem Ensemble. Das bedeutet aber doch, dass
wir durch unsere Arbeit den Tänzern eine wirtschaftliche Stabilität
ermöglicht haben. Denn ohne Geld kann man keine Familie gründen.
Und natürlich, die Welt ist anders geworden: man weiß mehr,
will mehr, möchte einerseits Karriere, aber auf Familie nicht
verzichten. Und gut, wenn die Tänzer das jonglieren können,
dann sollen sie das machen.
O&T: Aber...
Neumeier: Es ist kompliziert. Man fühlt ja auch eine gewisse
Verantwortung für die Tänzer, denkt für sie voraus,
wie sie künstlerisch weiterentwickelt werden können.
Und plötzlich kommt eine Tänzerin, meist sind es gleich
zwei oder drei auf einmal, und verkündet glückselig,
dass sie Mutter wird. Und mit einem Schlage wird alles hinfällig,
was man sich für sie ausgedacht hat, Rollen in Repertoire-Stücken,
Rollen in Kreationen – man muss ja mindestens zwei Jahre
im Voraus planen. Das Resultat ist, dass man sagt: Gut, bis jetzt
habt ihr alles zu tanzen bekommen. Ab jetzt konzentrie-
re ich mich ein bisschen mehr auf Gäste.
O&T: Konzentrieren müssen Sie sich jetzt auch auf die
Sicherung Ihres Lebenswerkes. Das sind 130 Werke, breit gefächert
vom Erzähl- und sinfonischen Ballett bis zum Musical. Da sind
die Ballettschule, eine Kunstsammlung, eine Bibliothek, eine Stiftung.
Neumeier: Ich versuche sicherzustellen, dass
das alles zusammen bleibt. Ich denke, dass die Lizenzen und Tantiemen
meiner choreografischen
Werke meine Sammlung und meine Bibliothek weiter unterstützen.
Der erste wichtige Schritt dazu ist sicher die „Stiftung
John Neumeier“... Man hat auch eine große Verantwortung.
Wenn ich zurückdenke: Meine Sammlung fing an mit einem Buch,
das ich in Cleveland gekauft habe – für 8,50 Dollar.
Inzwischen hat es einen riesigen Wert. Ich könnte nun sagen:
gut, sollen die Menschen nach mir zusehen, was sie damit anfangen.
Aber es macht einen doch sehr traurig mitzuerleben, dass sich in
England niemand für die Sammlung von Margot Fonteyn interessiert
hat. Man hätte diese Sammlung zusammenhalten, im Andenken
an diese große Ballerina dem Victoria and Albert Museum vermachen
können. So ist sie in alle Windrichtungen verkauft worden.
Sicher, es ist eine enorme Belastung, ein Testament in dieser Komplexität
zu machen. Und es warten noch so viele Aufgaben auf mich... Aber
ich glaube, ich bin pragmatisch genug, um jetzt doch einen Plan
fertigzustellen, wie es über meinen Tod hinaus mit meinem
Lebenswerk weitergehen soll.
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