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Düsteres vom verlorenen Menschen
Aulis Sallinens „Kullervo“ in Frankfurt · Von
Wolf-Dieter Peter Ich habe doch niemals gewollt, das zu sein, was ich jetzt bin“ sagt
Kullervo über sich selbst. Diese Selbstreflexion passt sowohl
auf einen heidnisch wilden Helden aus mythischer Vorgeschichte
als auch auf einen fundamentalistisch gläubigen „Märtyrer“ unserer
fanatisierten Terror-Tage. So ließe sich eine blutige Fantasy-Saga
aus Finnlands großem „Kalevala“-Epos erzählen,
vergleichbar den mythischen Helden des „Nibelungenlieds“,
der „Edda“ oder dem „Herrn der Ringe“.
Da aber Kullervo sich am Ende seines leidvollen Lebenswegs – Stationen
voll Inzest, Sklavendasein, Liebesscheitern, Verstoßung und
Rachemorden – ins „erlösende“ Feuer stürzt,
kommen dem mitdenkenden Zuschauer natürlich auch die Bilder
heutiger Selbstauslöschungen im Feuerblitz in den Sinn.
Doch Aulis Sallinen wollte bei der Auswahl der „Kullervo“-Episoden
aus dem „Kalevala“-Epos – darin vergleichbar
Carl Orffs Antiken-Vertonungen – der Haupthandlung um die
Titelfigur eine weitere Ebene hinzufügen: den „Chor“,
der erläuternd, kommentierend, reflektierend und einige Male
fast „anleitend“ die Szenen begleitet. Zu Kullervo
fallen Chor-Sätze wie „ohne Acht gewiegt als Kind...
von seinem harten Vater, seiner dummen, falschen Mutter“ – und
das ist der Ansatz, den Regisseur Christoph Nel und seine tiefenpsychologisch
geschulte Mitarbeiterin Martina Jochem gewählt haben: Beide
glauben unter Einbeziehung der Erkenntnisse von Thea Bauriedl und
Alice Miller nicht, dass ein Mensch aus sich alleine so abgründig
böse werden kann, sondern eher, dass Sallinen mit diesen Chor-Phrasen
seine Ansicht vertont hat: „Aus Kullervo wird ein Mörder
und Ungeheuer. Wäre es nicht gerechter, den Schuldigen woanders
zu suchen? Dort, wo die kollektive Verantwortung für Bildung
und Entwicklung des Menschen fehlt?“ So steht der Chor als
bundesrepublikanische Gesellschaft der späten 50er-Jahre auf
der Bühne: nach der Verdrängung aller „Vergangenheit“ blitzsauber
und ordentlich das „schwarze Schaf“ begleitend, zunächst
dis
tanziert im ersten Stock zweier offener Gehäuse auf der linken
und rechten Bühnenhälfte, errichtet von Bühnenbildner
Jens Kilian. Später kommt dieser Chor auch aus dem dunklen
Hintergrund und umgibt die erstarrt oder isoliert wirkenden Hauptfiguren.
Den mal rhythmischen Sprechgesang, die dunklen Klangflächen
und düsteren Kommentare bewältigte der Frankfurter Chor
in Matthias Köhlers Einstudierung bedrückend eindringlich.
Aus Sallinens mal diatonischen Linien, den Schlagzeug-Explosionen
und den fast unwirklich aufleuchtenden Melodien gestaltete Dirigent
Hans Drewanz mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester eine
fesselnd schwarze Welt, aus der der Mahlersche Schmerzenston fast
hoffnungsvoll aufschien. Düster bis „schwarz“ wirkte die ganze Inszenierung
von der dunkel ausgeleuchteten Bühne herunter durchweg: Kullervos
Einsamkeit, seine tödliche Rache für die Verspottung
seiner Liebesunfähigkeit durch die schöne junge Schmiedin,
die Vernichtung der rivalisierenden Familie des Onkels, sein Hang
zum Selbstmord – Bariton Ashley Holland gelang eine furchterregende
Studie eines Outcasts. Dazu kontrastierten die verzweifelten Versuche
seines gestörten Bruders Kimmo, der als wissender Narr von
shakespeareschem Format fast alles mit dem Herzen erkennt, die
Familie am gedeckten Tisch manisch zusammenzubringen versucht und
am Ende auch scheitert – was Peter Marsh mit Klaus-Kinski-Intensität
spielte und mit glänzenden Tenor-Phrasen gestaltete. Aus dem
bis in die Nebenrollen der Kullervo begleitenden Killer glänzend
besetzten Solisten-Ensemble ragten zwei gleichfalls „geschlagene“ Frauen
heraus. Die ihre vokal glühende Leidenschaft berechnend einsetzende
Schmiedin von Jenny Carlstedt wurde überragt noch von der
durch Patriarchat, Familienzwänge und Kindesbindung zerrissenen
Mutter von Heidi Brunner, in deren leuchtenden Sopranphrasen auch
kurz das Klang wurde, was aus Sallinens Sicht der „Wolfswelt“ Kullervos
fehlt: „Kullervo“ endet erlösungslos dunkel. Musiktheater
als düsteres Mahnmal – gerade auch für unsere lieblosen
Zeiten.
Wolf-Dieter Peter
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