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Eine Schwester der Violetta
Der Komponist Salvatore Sciarrino wird repertoirefähig · Von
Gerhard Rohde
Lange Zeit galt ein Spottwort: Uraufgeführt und dann nie wieder.
Zu totem Leben verurteilt im ewigen Theaterfundus. Aber auch Spott
kann altern. Die alte Regel stimmt nicht mehr. Sogar in der Oper.
Die Musikbühnen buhlen nicht nur um „echte“ Premieren – sprich:
Uraufführungen – sie spielen auch „nach“,
vor allem, wenn sich bestimmte Werke im allgemeinen Bewusstsein
als interessant genug festgesetzt haben. Von diesem veränderten
Bewusstsein profitieren nicht nur die Komponisten und deren Verlage
(wegen der Tantiemen), sondern auch die „Kunst“ selbst:
Man erfährt, wie es, in diesem Fall, mit der Kunstform „Oper“ in
Zukunft weitergehen könnte. Nicht nur immer wieder „Rigoletto“ oder „Ring
des Nibelungen“, bestenfalls neu dekoriert von matten Regisseursphantasien.
Oder Verdis „La Traviata“.
Jetzt konnte man in wenigen Tagen an drei Musiktheatern drei Werken
eines einzigen Komponisten begegnen: am Staatstheater Mainz inszenierte
Tatjana Gürbaca Salvatore Sciarrinos „Macbeth“,
im Bockenheimer Depot der Oper Frankfurt stellte der Regisseur
Christian Pade seine szenische Version von Sciarrinos viel gespielter
Kammer-oper „Luci mie traditrici“ vor. Und am Nationaltheater
Mannheim gab es sogar eine Sciarrino-Uraufführung, womit die
Repertoire-Tauglichkeit dieses Komponisten wohl endgültig
als gesichert gelten dürfte.
Superflumina“ lautet der Titel von Sciarrinos neuem Bühnenwerk,
und der Komponist erklärt auch bereitwillig dessen Herkunft: „Super
flumina Babylonis illic sedimus et flevimus“ heißt
es am Anfang des 137. Psalms, was übersetzt „an den
Wassern Babylons saßen wir und weinten“ bedeutet. Sciarrino
projiziert die Bibel in unsere Gegenwart, und die Wasser Babylons
verwandeln sich in einen großen Bahnhof. Dort sehen wir eine
einsame Frau, eine Obdachlose mit ihren zusammengesammelten Habseligkeiten.
Menschen eilen hin und her, stolpern über die Frau, stoßen
sie, schimpfen. Die fließenden Bilder gerinnen zur Chiffre:
die Frau als Abbild unserer Einsamkeit und, schlimmer noch, unserer
Verlassenheit. Sciarrinos Musik mit ihren fallenden Seufzern, den „komponierten“ Atemgeräuschen,
ihren vor Spannung vibrierenden Pausen, Synkopierungen und nervösen
Akzentuierungen verwandelt gleichsam Verdis „La Traviata“-Aussparungen
in eine moderne Klangstruktur, in der auch ein schmerzender Klagelaut
immer wieder ergreifend durchbricht. Sciarrinos „Obdachlose“ als
eine Schwester von Verdis „Violetta Valéry“ – faszinierend,
wie hier Menschenschicksale aus scheinbar weit auseinander liegenden
Zeiten in unsere psychische Nähe gerückt werden.
Diese spürbare Bedrängung, ja Erschütterung unseres
doch so unerschütterlichen Selbstbewusstseins wurde in der
Mannheimer Aufführung noch intensiviert durch die überlegene
Gestaltungskraft der Sopranistin Anna Radziejewska. Eine grandiose
Studie der Verlorenheit, die eindringlich zeigte, wie ein Mensch
durch äußeren exis-tentiellen Druck langsam seelisch
zerstört wird bis hin zur Auflösung seiner Identität.
Sciarrinos Fähigkeit, mit seiner Musik gleichsam ins Innere
seiner Figuren vorzustoßen, sie schmerzhaft zu durchleuchten,
ihre wahren psychischen Dispositionen aufzuzeigen, hat in „Superflumina“ noch
einmal eine gesteigerte Sublimierung und kompositorische Dringlichkeit
erreicht. Nicht zuletzt auch durch eine überzeugende szenische,
vokale und orchestrale Darstellung, die dem Leis-
tungsstandard der Mannheimer Oper das beste Zeugnis ausstellt (Dirigent:
Tito Ceccherini, Inszenierung: Andrea Schwalbach).
Die Sciarrino-Trilogie an den drei genannten Opernhäusern
demonstrierte insgesamt sowohl den singulären Rang des Komponisten
in der Neuen Musik als auch die eindrucksvolle Leistungsfähigkeit
unserer Musikbühnen. In der Frankfurter Aufführung von „Luci
mie traditrici“ gelang es dem Regisseur Christian Pade, in
der vordergründig kriminalistischen Eifersuchtstragödie
die quasi solipsistische Perspektive der Figuren aufzudecken. Sciarrinos
Musik weist mit ihrer insistierenden Energie unentwegt auf diese
psychischen Dispositionen der Figuren hin. Nina Tarandek und Christian
Miedl exekutieren
das anspielungsreiche Versteck- und Entlarvungsspiel mit fast choreographisch
abgezirkelter Genauigkeit. Das Frankfurter Opernorchester unter
Erik Nielsen agierte so überlegen und sicher, als wollte es
den modernen Spezialensembles den Rang ablaufen. Da hat sich in
den Operntheatern in den letzten Jahren erstaunlich viel zum Positiven
verändert.
Gerhard Rohde
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