Endlich in Bayern angekommen
John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“ am
Bayerischen Staatsballett
Es hätte schon viel früher ins Staatsballett-Repertoire
gehört: John Neumeiers „Illusionen – wie Schwanensee“,
das er 1976 für sein Hamburg Ballett kreierte. Denn es ist
ja so etwas wie ein weiß-blaues Ballett mit seiner nach Ludwig
II. geformten Königsfigur und Ausstatter Jürgen Roses
bayerischer Seen- und Gebirgslandschaft, zünftiger Trachtenmode
und kandelabererleuchteter Schlosspracht. Immerhin konnte es jetzt – passend
zum „Ludwig-Jahr“ – vom Ballettfestwochen-Publikum
im Münchner Nationaltheater euphorisch bejubelt werden.
Neumeiers Überblendung des Tschaikowsky/Petipa-Klassikers „Schwanensee“ von
1895, also eines Märchens, mit einem Menschenschicksal unserer
Zeit war vor fünfunddreißig Jahren eine großartige
Fortschreibung der Ballettkunst in die Zukunft. Inzwischen hat
das Werk in Dekor und choreografischer Durchführung Patina
angesetzt. Aber Neumeiers sensibles dramaturgisches Geschick, Typen
und Klischee-Situationen des klassisch-romantischen Balletts zu
ersetzen durch Menschen und ihre psychologisch glaubhaften Handlungen,
interessiert immer noch. Hier erlebt man einen Menschen, zerrissen
zwischen gesellschaftlichem Anspruch und seinen homophilen und
künstlerischen Neigungen. Für wahnsinnig erklärt
und weggesperrt, driftet dieser „König“ ab in
Erinnerungen und Wunsch-Visionen. In einer so erinnerten „Schwanensee“-Vorstellung
träumt er sich hinein in die Figur des Prinzen Siegfried.
Und auf dem Maskenball wird seine im Schwanenkostüm erscheinende
Verlobte Natalia für ihn zur echten Schwanenkönigin.
Mit dieser einfach-raffinierten Gleichsetzung des Königs mit
der Prinzen-Märchenfigur hat Neumeier seinen Anti-Helden schon
blendend charakterisiert. Am Ende stirbt der König in den Armen des ihn verfolgenden „Mannes
im Schatten“, der als Angstprojektion seiner Homosexualität
gedeutet werden kann und zugleich als sein Todesengel. Wer Handlungsballette
zu schätzen weiß, bekommt hier ein gut erzähltes:
mit Michael Schmidtsdorff am Pult, einem harmonisch tanzenden weißen
Schwanen-Corps und solchen herausragenden Solisten wie Tigran Mikayelyan
(König), Daria Sukhorukova (Schwanenkönigin) und Lucia
Lacarra (Natalia).
Malve Gradinger
|